Neue Heimat:Die Warteschlange ist eine demokratische Errungenschaft

1860 Fans in der Ticketschlange für Heimspieldebut im Grünwalder Stadion in München, 2017

Die Deutschen stehen häufig und lange Schlange. Wenn sich jemand vordrängelt, sagen sie oft nichts.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

In Uganda, schreibt unsere Autorin, wird beim Schlangestehen gepöbelt und gedrängelt. In Deutschland ist das die Ausnahme. Wieso eigentlich?

Kolumne von Lillian Ikulumet

In Afrika gibt es keine Eile, das sagen die Menschen in Uganda. Wir haben keine Uhren, dafür haben wir Zeit. In Bayern haben die Menschen zwar Uhren, dafür aber nie Zeit. Fast nie, es gibt eine Ausnahme, wo so gut wie jeder Münchner Zeit und Geduld aufbringt: Beim Schlange stehen. Hier ist es genau anders herum: Für viele Afrikaner sind Warteschlangen keine Option, man hat dabei stets das Gefühl, dass man jetzt etwas verpasst. Und deswegen nutzen viele jede Gelegenheit und jede Ausrede, um sich vorzudrängeln.

Wie gut manche Kulturen im Vordrängeln ausgebildet sind, sieht man im Kreisverwaltungsreferat in München. Außer zur Wiesnzeit gibt es in der Stadt keinen Ort, der die Geduld der Menschen derart auf die Probe stellt. Die Einzigen, die dort im Ausländeramt die Chance auf Bevorzugung haben, sind Schwangere oder Mamas mit Babys. Wer dort schon mal gewartet hat, weiß das natürlich, und so kam es eines Vormittags dazu, dass ein Mann sich einen Trick überlegte. Er ging zu einer Frau und borgte sich den Passagier ihres Kinderwagens aus. Mit dem Baby auf dem Arm kam er dann eher dran, danach gab er es der Mutter wieder zurück.

Sein Glück: Die Menschen am Schalter prüfen nicht, ob das Kind zu einem gehört, da kommt das deutsche Zeitproblem wieder zum Tragen. Ich fand das reichlich unverschämt, auch weil ich selbst Stunden in der Schlange warten musste, ehe ich an die Reihe kam. Also beschloss ich, künftig auch zu schwindeln.

Es gibt verschiedene Tricks: Wer Geld hat, kann die Warterei outsourcen und jemanden beauftragen, der für einen ansteht. Deutsche Start-ups haben daraus bereits Geschäftsmodelle entwickelt. Eine zweite Möglichkeit ist, dass man irgendeine krude Geschichte erzählt, warum man jetzt vor muss. Oder aber, man schiebt sich einfach so nach vorne.

In Uganda passiert das ständig, eine ordentliche Schlange in einem Laden ist dort praktisch unmöglich. Beim Anstehen geht es drunter und drüber, die Leute pöbeln sich an - in Münchens Supermärkten geht es da gesitteter zu. Dass gedrängelt wird, ist hier die Ausnahme, es kommt aber schon mal vor, so geschehen in einem Lebensmittelladen am Münchner Ostbahnhof. Dort schob sich ein arabisch aussehender Mann einfach ganz vorne in die Schlange und sparte sich so sicher um die fünf Minuten.

Besonders erfreut waren die hinter ihm nicht, das sah man an den Gesichtern. Aber alle verhielten sich ruhig. Die Frage, die sich unweigerlich stellte: Warum sagt niemand was? Vielleicht sind die Münchner zu höflich, ein Schlitzohr zurechtzuweisen? Was auch eine Rolle spielen könnte: die Angst, als Fremdenfeind dazustehen.

Segregation im Supermarkt? Demokratie!

Das hat zumindest die Kassiererin gesagt, als der Mann weg war. "Wenn ich ihn nicht durchlasse, dann nennen mich die Leute eine Rassistin", sagte sie. Da wurde es ganz still im Laden, und ich nutzte die Situation und schob mich unauffällig nach vorne, ganz im afrikanischen Stil. Plötzlich rief jemand von hinten: "Nächstes Mal machen Sie eine Kasse nur für Ausländer auf."

In diesem Moment ratterte es in meinem Kopf, und sogleich fühlte ich mich schuldig. Wie auch immer dieser Satz gemeint war, so hatte ich durch meine Aktion etwas ausgelöst. Der Vorschlag einer Segregation zwischen Einheimischen und Ausländern an der Supermarktkasse, das erinnert an schlechte alte Zeiten, die wir hoffentlich längst hinter uns haben.

So sehr man das Schlange stehen auch fürchten mag, es hat schon auch Vorteile: In der Schlange muss jeder warten, egal woher er kommt oder wie viel er verdient. Warteschlangen nerven alle gleich, und das ist gut, weil es demokratischer kaum geht.

Neue Heimat - Der andere Blick auf München
Vier Flüchtlinge, die in ihrer Heimat als Journalisten gearbeitet haben. Nach dem Porträt werden sie regelmäßig eine Kolumne schreiben. Fotografiert auf der Brücke im SZ-Hochhaus.

Die Autorin: Lillian Ikulumet, 36, stammt aus Uganda. Bis 2010 arbeitete sie dort für mehrere Zeitungen, ehe sie flüchtete. Seit fünf Jahren lebt Ikulumet in München.

Die Serie: Zusammen mit drei anderen Flüchtlingen schreibt Ikulumet für die SZ eine Kolumne darüber, wie es sich in Deutschland lebt und wie sie die Deutschen erlebt. Alle Folgen finden Sie auf dieser Seite...

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