Neue Heimat:Bürokratie ist viel mehr als nur Papierkrieg

Bürokratie

Formulare, Akten, Stempel: Die Bürokratie in Deutschland wirkt mitunter befremdlich.

(Foto: Patrick Pleul/dpa)

Sie bedeutet auch: gleiche Regeln und Rechte für alle. In der Heimat unseres Autoren aus Afghanistan hingegen ist Korruption an der Tagesordnung.

Kolumne von Nasrullah Noori

Wenn man hier ein Baby bekommt, hat man Anspruch auf Kindergeld. Aber um Kindergeld zu bekommen, braucht das Baby eine Geburtsurkunde. Und die bekommt es nur, wenn auch die Eltern Geburtsurkunden vorweisen können - Dokumente, die viele Afghanen nie besaßen. Wie soll ein Flüchtling aus Afghanistan es also anstellen, dass sein Kind in Deutschland Kindergeld bekommt?

Vor diesem und ähnlichen Problemen steht man in diesem Land Tag für Tag, wenn man - wie ich - neu in München ist und sich einzuleben versucht. Das Problem hat einen Namen: Bürokratie. Man könnte auch sagen: Papierkrieg. Ohne Papiere geht hier gar nichts.

Die Dinge müssen schwarz auf weiß dokumentiert sein, dieses Phänomen begleitet einen hier auf Schritt und Tritt. Und das kann einem ganz schön zu schaffen machen. Meine Eltern sind auch hier in München, sie haben neun Kinder und sieben Enkelkinder. Aber sie haben keine Heiratsurkunde - solch ein Papier gab es nicht, als sie vor 40 Jahren in Kundus heirateten. Als Beweis für die Eheschließung genügen in Afghanistan das Wort des Mullahs und der Nachbarn - und nicht zuletzt die vielen Kinder.

Deutsche Behörden geben sich damit nicht zufrieden, was man dem Beamten nicht unbedingt vorwerfen sollte, es ist nun mal die Regel. Am Anfang ist das aber trotzdem sehr schwer zu verstehen. Auch weil man meinen möchte, dass Kinder aus Fleisch und Blut doch mehr wert sein müssten als ein Stück Papier. Oder?

Offizielle Geschäfte werden in Afghanistan oft per Handschlag abgeschlossen. Wenn der Geschäftspartner vertrauenswürdig ist, dann ist das in aller Regel kein Problem. Aber leider gibt es in Afghanistan auch viel Korruption und Vetternwirtschaft - auch Gründe, warum viele Menschen das Land verlassen. Wer keine Arbeit findet, weil er das nötige Bestechungsgeld nicht bezahlen kann, der hat oft keine andere Wahl, als anderswo sein Glück zu suchen.

Bevor ich etwa in Kundus meine Stelle als Journalist antreten konnte, musste ich ein Abiturzeugnis vorweisen. Ich ging zur Schulbehörde, um mir das Dokument ausstellen zu lassen. Der Beamte, dem ich gegenüber saß, war zunächst sehr freundlich. Dann zog er die Schublade seines Schreibtisches auf und sagte leise: "Kauf mir eine Telefonkarte für 50 Afghani." Ich sagte: "Ich bin Schüler und habe kein Geld." Sofort wurde er weniger freundlich und sagte: "Ich habe jetzt Mittagspause. Komm morgen wieder."

Das Beispiel ist harmlos, es zeigt aber, was Korruption bedeutet, im Kleinen wie im Großen: Wer Geld hat, bekommt, was er will; wer arm ist, hat Pech gehabt. Die Bürokratie in Deutschland, so lästig sie sein mag, ist da anders gestrickt. Ich war sehr beeindruckt, als ich am Tag der Bundestagswahl die TV-Bilder aus den Wahllokalen sah. Ob Angela Merkel oder Martin Schulz, ob Walter Steinmeier oder Cem Özdemir: Sie müssen alle anstehen, bevor sie die Stimme abgeben können. Welch faszinierende Bilder. Ein afghanischer Politiker käme nie auf die Idee, zusammen mit dem gemeinen Volk in einem Raum zu stehen und zu warten, bis er an der Reihe ist. Wer bekannt und mächtig ist, der bekommt in Afghanistan den Vortritt.

Bürokratie bedeutet also nicht nur Papierkrieg. Bürokratie bedeutet auch: gleiche Regeln und Rechte für alle. Merkels Gesicht ist bekannt. Trotzdem muss sie im Wahllokal ihren Ausweis vorzeigen. Und erst wenn der Wahlhelfer ihren Namen auf der Liste abgehakt hat, bekommt sie ihre Unterlagen. Demnächst habe ich wieder einen Termin beim Job-Center. Da weiß ich: Wenn ich pünktlich um 13 Uhr bei meinem Sachbearbeiter an die Tür klopfe, komme ich sofort an die Reihe. Ich hoffe nur, dass nicht wieder irgendein Dokument fehlt.

Neue Heimat - Der andere Blick auf München

Der Autor: Nasrullah Noori, 27, stammt aus Kundus in Nordafghanistan. Er arbeitete dort als Journalist fürs Fernsehen, unter anderem für den staatlichen Sender RTA. Wegen seiner Berichte über Mädchenschulen erhielt er von der Taliban-Miliz Morddrohungen und musste fliehen. Seit 2014 lebt er mit seiner Familie in München.

Die Serie: Zusammen mit drei anderen Flüchtlingen schreibt Noori für die SZ eine Kolumne darüber, wie es sich in Deutschland lebt und wie er die Deutschen erlebt. Alle Folgen finden Sie auf dieser Seite. Hintergründe zu unseren Kolumnisten finden Sie hier.

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