Süddeutsche Zeitung

Neue Berechnungen:München bleibt 2000 Plätze für Flüchtlinge schuldig

Lesezeit: 3 min

Von Heiner Effern, München

München ist seit Monaten nicht in der Lage, die geforderte Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Nach jüngsten Berechnungen der Regierung von Oberbayern liegt die Landeshauptstadt seit dem Herbst 2015 mit mehr als 2000 Flüchtlingen im Rückstand. "Wir haben es nicht geschafft, Unterkünfte in dem Maß bereitzustellen, wie wir es sollten. Wir haben ein Defizit", räumt Alexander Reissl ein, der Chef der SPD-Fraktion.

Sollte der Andrang auch 2016 ungebremst sein, könnte bis Jahresende mindestens ein Fünftel der Münchner Turnhallen belegt sein, fürchtet sein Kollege von der CSU, Hans Podiuk. Diese Unterbringung hat Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) bislang stets als "menschenunwürdig" bezeichnet und ausgeschlossen - auch wenn sie im Rest Oberbayerns üblich ist.

"So wie jetzt kann es nicht weiter gehen"

Reiter hatte am Wochenende die akuten Probleme der Stadt bei der Akquise von Unterkünften erstmals öffentlich benannt. Er forderte, die Flüchtlingszahlen zu begrenzen, und eine Art Residenzpflicht für anerkannte Asylbewerber. Diese drängten nämlich ebenfalls in wirtschaftlich erfolgreiche Ballungsräume, um dort Arbeit zu finden.

Das würde den Druck auf den hiesigen Wohnungsmarkt nochmals erhöhen. "So wie jetzt kann es nicht weiter gehen", sagte Reiter. "Das ist eine einfache Rechnung: Irgendwann gehen die Flächen aus."

Wie der Bedarf an Unterkünften explodiert ist, dokumentieren Zahlen des Sozialreferats: Bis Ende 2014 gab es in München insgesamt etwa 5500 Plätze für Flüchtlinge. Im Jahr 2015 kam fast das Dreifache dazu: Die Stadt richtete Unterkünfte für etwa 15 000 Menschen ein. Dieses Jahr sollen nochmals 8700 Betten geschaffen werden. Doch all das wird nicht reichen, wenn weiter so viele Asylsuchende nach Deutschland streben. "Der Berg wird eher steiler als flacher", sagt Reissl. "Wir haben immer gesagt, dass wir nicht beliebig viele Menschen aufnehmen können."

Lieferengpässe und bauliche Verzögerungen machen Sozialreferat zu schaffen

Deshalb will sich Reissl wie auch OB Reiter keine Wende in der Asylpolitik vorhalten lassen. Das CSU-Gerede von einer Obergrenze finde er "deppert", sagt Reissl. Niemand könne sagen, wie diese aussehen solle. Menschenrechte gälten auch in Krisenzeiten. Auch wenn die Zahl der Flüchtlinge geringer werden müsse, "wir werden nicht am Bahnhof eine Menschenkette bilden, um niemanden mehr hereinzulassen", sagt der SPD-Fraktionschef.

Der Bündnispartner im Rathaus sagt, ihm sei der enorme Rückstand bei der Flüchtlingsaufnahme nicht bewusst gewesen. "Sozialreferentin Meier hat uns das erst vor etwa acht Tagen erzählt", sagt der CSU-Fraktionsvorsitzende Podiuk. Er hält nicht nur die Akquise von Flächen und Immobilien für ein gravierendes Problem. "Wir beschließen pausenlos neue Standorte. Wo es gewaltig hängt, ist der Vollzug."

Tatsächlich machen Lieferengpässe etwa bei Containern und bauliche Verzögerungen dem Sozialreferat immer wieder zu schaffen. Dazu müssen für jedes neue Quartier auch Catering, Sicherheitspersonal und Sozialpädagogen für die Betreuung gefunden werden. Wie dramatisch die Lage ist, zeigte sich vor knapp zwei Wochen in der Unterkunft an der Karlstraße.

Dort lebten statt der zugelassenen 800 Flüchtlinge tatsächlich 1000. Da kein Ersatzquartier zur Verfügung stand, wurden in einer Hauruckaktion 200 Asylsuchende zum Teil in Pensionen untergebracht, zum Teil zogen sie in Notunterkünfte für Obdachlose in der Bayernkaserne.

Entscheidend für den massiven Rückstand der Stadt sind laut Regierung von Oberbayern die dramatischen Wochen im September, als am Münchner Hauptbahnhof Tausende Flüchtlinge in Zügen ankamen. Die Bezirksregierung, eine Behörde des Freistaats, drosselte deshalb die wöchentlichen Zuweisungen.

Als aber Ende Januar der Rückstand Münchens nicht kleiner wurde, forderte die Bezirksregierung die Stadt in einer internen Sitzung auf, deutlich mehr Plätze bereitzustellen - auch weil die anderen oberbayerischen Landkreise das Defizit auffangen müssen. Zwischenzeitlich betrug es sogar 2500 Plätze, allerdings sind die Berechnungen derart kompliziert, dass selbst die Experten bei Stadt und Regierung die Zahlen nicht immer genau benennen können.

Bei aktuellem Wochenschnitt: 16 700 Flüchtlinge in diesem Jahr

Asylbewerber werden in Deutschland nach einer festen Quote verteilt, dem Königsteiner Schlüssel. Konkret teilt die Bezirksregierung den Städten und Kreisen mit, wie viele sie jede Woche aufnehmen müssen. Sie melden im Gegenzug, wie viel freie Plätze sie anbieten können. München hätte im Jahr 2016 in den ersten fünf Wochen jeweils 654 Flüchtlinge aufnehmen müssen, danach 392, seit dieser Woche 340.

Im Schnitt kam die Stadt bis Mitte Februar nur auf 322 pro Woche - die Möglichkeiten, neue Quartiere im erforderlichen Tempo bereitzustellen, sind ausgereizt. Sollte die Stadt den aktuellen Wochenschnitt von 322 halten, nähme sie bis Jahresende übrigens 16 700 Flüchtlinge auf.

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Quelle:
SZ vom 23.02.2016
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