Förderstätte in Neuaubing:Über die Hürden, die der Körper setzt

Ein Mann fährt im Verein "Helfende Hände" auf einem Dreirad.

Eine herausfordernde Übung: das Training mit dem Dreirad.

(Foto: Fabian Helmich)

Der Verein "Helfende Hände" betreut und fördert seit 50 Jahren mehrfachbehinderte Kinder und Erwachsene. In den Wohngruppen haben sie ein behütetes Zuhause gefunden.

Von Ellen Draxel

Dilek Yildiz lacht viel an diesem Donnerstag. Sie klatscht im Rhythmus der Musik, begrüßt mit Hilfe ihrer Assistentin die Gäste und fordert die Vorstandsvorsitzende Nariman Zimpel zum Rock'n'Roll-Tanz auf. Die Lebensfreude steht der jungen Frau ins Gesicht geschrieben. Dass sie eine komplexe Behinderung hat und Unterstützung braucht, beeinträchtigt ihre Stimmung und die der Menschen ringsum überhaupt nicht.

Dilek Yildiz lebt im Wohnheim der Helfenden Hände in Neuaubing und arbeitet in der Förderstätte des Vereins. An diesem Nachmittag feiert der Verein zur Förderung und Betreuung mehrfachbehinderter Kinder und Erwachsener sein 50-jähriges Bestehen, mit geladenen Gästen, Musik, Tanz, Filmvorführung, Ausstellung und Podiumsdiskussion. Die Atmosphäre ist trotz des großen Andrangs warmherzig und familiär - wie immer in diesen Räumen, betont Nariman Zimpel.

"Die Menschen bei uns hier", erklärt die Vorsitzende, "das sind sehr besondere Menschen. Sie besitzen eine wundervolle Ausstrahlung." Sie fühlten, liebten und wollten geliebt werden wie alle Menschen - und bedürften doch der respektvollen Unterstützung. "Das Besondere bei den Helfenden Händen", bestätigt Wohnheim-Leiterin Veronika Bark, "ist die Kommunikation auf Augenhöhe". Wie gut das klappt, beweist ein Schild an der Tür der Einrichtung an der Reichenaustraße: "Eingang für die besten Mitarbeiter der Welt." Eine Geste des Vorstands, die viel über das Leitbild der Helfenden Hände aussagt.

Helfende Hände

Warmherzig und familiär - so will die Förderstätte sein.

(Foto: Fabian Helmich)

Als der Verein 1969 aus einer Selbsthilfegruppe engagierter Eltern hervorging, galten Kinder mit geistigen Behinderungen in Bayern noch als schul- und bildungsunfähig. In der ein Jahr später gegründeten Heilpädagogischen Tagesstätte für 30 Kinder bewies man jedoch schnell das Gegenteil: Menschen, die nicht sprechen und ihre Hände nicht koordinieren können, sind dennoch in der Lage, zu lernen und schöpferisch tätig zu sein. Danach ging es steil bergauf: 1971 eröffnete die erste Vorschulgruppe, 1976 begann der Schulalltag für die ersten zwei Klassen. Alles in damals noch angemieteten Räumen an der Parsberger- und Freienfelsstraße.

1979 dann der Umzug in das erste eigene Haus an der Köferinger Straße 20, das heute noch die schulische Heimat der Helfenden Hände ist. Inzwischen besuchen 74 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen drei und 21 Jahren das Förderzentrum. Der Tagesablauf jedes einzelnen ist individuell auf seine Bedürfnisse abgestimmt: Aktivitätsphasen im Unterricht der Schulvorbereitenden Einrichtung, der Grund- und Mittelschulstufe oder der Berufsschulstufe wechseln sich mit Therapie, fördernder Pflege und Ruhephasen ab.

"Die Helfenden Hände haben immer wieder eine Vorreiterrolle gespielt"

1989, mit dem Erwachsenwerden der ersten Schülergeneration, kam schließlich der zweite große Bereich dazu, der heute das Engagement der Helfenden Hände auszeichnet - die Förderung und das Schaffen eines Zuhauses für volljährige Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen. Nach einer Übergangsphase zur Miete durften auch diese Menschen ins eigene Haus umziehen: 1998 wurden das Wohnheim und die Förderstätte an der Reichenaustraße 2 eingeweiht. Die Erweiterung folgte 2012, ein Jahr später kamen sechs Kurzzeitwohnplätze hinzu, die Eltern und Kindern ab fünf Jahren auch mal eine Atempause vom pflegerischen Alltag ermöglichen. Von den 87 Betreuten, die heute in der Förderstätte kreativ arbeiten, leben 54 im Wohnheim. Neun Wohngruppen gibt es an der Reichenaustraße, jede hat Platz für sechs Bewohner. Neben den persönlichen Räumen teilen sich die Menschen einen heimelig anmutenden Wohnbereich.

Helfende Hände

Beim Spielen mit Bauklötzen stand schon vor Jahrzehnten der Spaß im Vordergrund.

(Foto: Privat)

270 Pädagogen, Pfleger und Therapeuten kümmern sich Tag für Tag um ihre Schützlinge. Und trotzdem, meint Nariman Zimpel, fehle immer wieder die eine oder andere Hand. Zum Essen geben. Zum Umbetten. Oder eben zum Rollstuhl schieben. Die Vorstandsvorsitzende hat wie alle ehrenamtlich seit der Gründung des Vereins arbeitenden Vorstände ebenfalls ein Kind in der Einrichtung: André. Der junge Mann ist inzwischen 27 und lebt in einer Gruppe mit Betreuten, von denen viele schwerste Mehrfachbehinderungen haben. Auch Pauline ist Teil der Gruppe, Krankenschwester Antje Webersberger ist immer bei ihr. Pauline muss regelmäßig der Schleim abgesaugt werden, sonst bekommt sie keine Luft mehr.

"Die Helfenden Hände haben immer wieder eine Vorreiterrolle gespielt", erläutert Zimpel. "Wir haben mehr und mehr Menschen, die rund um die Uhr von einer Person mit medizinischem Fachwissen versorgt werden müssen." Bis vor 20 Jahren kamen Menschen mit zusätzlichem Betreuungsbedarf wie Pauline noch in eine reine Pflegeeinrichtung, weil es nicht die Möglichkeit gab, Leistungen der Pflege mit Leistungen der Eingliederungshilfe zu kombinieren. Das ist heute anders, allerdings gibt es gerade Gesetzesentwürfe, die wieder in die andere Richtung tendieren. "Das wäre für uns der Supergau", sagt Bark.

So gut wie fix ist dagegen der Schulneubau. Der marode Komplex an der Köferinger Straße soll abgerissen und mit mehr Platz für alle für 33 Millionen Euro neu errichtet werden. Laut Ministerialrat Hubert Killer ist der Bau "schon so gut wie genehmigt". Kommenden Mai werden Pavillons als Interimslösung aufgestellt, der Umzug erfolgt in den Sommerferien, im September wird das alte Gebäude dann abgerissen. Zwei Jahre später sollen die Schüler in ihr neues Domizil einziehen. Zimpel wünscht sich dafür Spenden, "denn zehn bis zwölf Millionen Euro der Kosten müssen wir als Verein selber tragen".

Am Jubiläumstag äußern sich die geladenen Gäste dazu allerdings nicht, weder die Schirmherrin der Veranstaltung, Bayerns Sozialministerin Kerstin Schreyer, noch Bezirkstagspräsident Josef Mederer. Mederer nimmt aber als "Hausaufgabe" mit, zu klären, ob Förderung durch die Offene Behindertenarbeit bei den Helfenden Händen möglich ist. Freuen dürfen sich auch die Bewohner: Stadtrat Christian Müller (SPD) verspricht ihnen freien Eintritt in alle städtischen Einrichtungen und die Finanzierung ihres nächsten Ausflugs.

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