Musiktheater:Im Fall des Felles

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Aus der Weite des Meeres in die Enge des Kleinfamilien-Glücks: der Fischer (Simon Dietersdorfer) und seine Seehund-Frau (Michèle Rohrbach). (Foto: Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper)

Was passiert, wenn aus Seehunden Menschen werden, zeigt ein Inuit-Märchen mit Musik, Tanz und Schauspiel im Nationaltheater.

Von Barbara Hordych

Der uralte Mythos stammt aus dem hohen Norden, aus der eisigen Welt der Inuit. Seine Wirkung aber reicht bis weit in den Süden, aktuell sogar bis nach München, wo die Sage um die Seehundfrauen derzeit an gleich zwei Orten künstlerisch aufgegriffen wird: Da sind die fabelhaften Unterwasser-Wesen aus Nikolaus Heidelbachs Bilderbuch "Wenn ich groß bin, werde ich Seehund", die in der Literaturhaus-Ausstellung dem Besucher auf der gesamten Fensterfront gleichsam entgegenschweben. Und da ist die Musiktheater-Produktion "Das Kind der Seehundfrau" des jungen niederländischen Komponisten Jesse Broekman nach dem gleichnamigen Theaterstück von Sophie Kassies, die jetzt in der Regie von Sara Ostertag an der Bayerischen Staatsoper Premiere hatte. Beide Werke beruhen auf der Legende um die Seehundfrauen, die in Mondschein-Nächten ihr Fell ablegen und sich in wunderschöne tanzende Menschenfrauen verwandeln.

Eine poetische Geschichte vom Verlassen-werden und vom Loslassen-lernen

Genau dies beobachtet eines Nachts ein einsamer Fischer (Simon Dietersdorfer) auf der Probenbühne im Nationaltheater. "Er war allein, er redete nie, er war so hart wie die Landschaft", erzählt die Schauspielerin Michèle Rohrbach. Kurzentschlossen stiehlt er der Schönsten dieser Seehundfrauen das abgeworfene Fell, um ihre Rückkehr ins weite Meer zu verhindern. Nach dem ersten Erschrecken darüber, "was für ein hässlicher Mann" dieser Fischer ist, verliebt sie sich in ihn. Ein Liebes-Duett zu innigem Tanz entspinnt sich, begleitet von den drei Musikerinnen Yushan Li (Viola), Aikaterini Giannitsioti (Violoncello) und Clarissa Schmitt (Klarinette). Beeindruckende Variabilität besitzt die Stimme der Mezzosopranistin Hagar Sharvit, sie beherrscht den sphärisch anmutenden "Seehund-Gesang" ebenso wie den klassischen Lied-Gesang. Dazu erzeugt Broekmans Komposition mit elektronischem Sound-Design einen flirrend-frostigen Klangteppich, in dem die Eisschollen knarzen, der Wind pfeift, und die Seehunde, ja was, johlen oder bellen? Wie auch immer, das Seehundwesen willigt ein, des Fischers Frau zu werden. Allerdings muss er versprechen, ihr nach sieben Jahren ihr Fell wiederzugeben.

Es währt nicht lange, und ihr Junge Oruk wird geboren - das heißt, er purzelt in türkiser Schneehose aus einem der Kühlschränke, die hier als Eisschollen und Flöße über die Bühne rollen. Turbulente Spiele, Kajak-Bau und Angler-Glück bestimmen fortan den Alltag der kleinen Familie. Bis die Mutter sich nach Oruks sechstem Geburtstag seltsam verändert: Sie kratzt sich an Armen und Beinen, das Haar fällt ihr aus, ihr Blick wird stumpf. Ihr Mann will die wahre Ursache nicht wahrhaben, auch sie selbst ist hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, bei ihrer Familie zu bleiben und der Sehnsucht, in ihr eigenes Element zurückzukehren. Vielleicht ist es dieser Zwiespalt, der den Stoff so reizvoll macht für aktuelle Umsetzungen. Schließlich ist es Oruk, der die Mutter rettet, indem er ihr das versteckte Fell zurückgibt. Es ist eine poetische Geschichte vom Verlassen-werden und vom Loslassen-lernen, die hier im Wechselspiel von Musik, Tanz und Schauspiel für ein junges Publikum wunderbar eindrücklich erzählt wird.

Das Kind der Seehundfrau, ab 8 J., Mi., 1. Juni, 11 und 16 Uhr, Do., 2. Juni, 11 Uhr, Nationaltheater

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