Süddeutsche Zeitung

Erinnerungen aus dem Zweiten Weltkrieg:"Sie wollten nur leben"

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Gerda May verlor ihren Bruder, viele Freunde und ihre Nachbarn, die Widerstandskämpfer in der Roten Kapelle waren. Die 97-Jährige sagt trotzdem, sie habe sehr viel Glück gehabt - und erzählt von ihren Kairos-Momenten.

Von Martina Scherf

Auf dem Sofa liegen Gerda Mays Lebenserinnerungen. Fünf Bände. Zwei sind schon in schwarzen Karton gebunden, drei mit Spiralfedern zusammengehalten. Darin Episoden aus ihrem reichen Leben, Fotos, Briefe, Zeugnisse, Einladungskarten. "Ich hab alles aufgehoben", sagt Gerda May. 97 Jahre ist sie alt. Ihre Gedanken sind hellwach. Namen, Daten, alles ist präsent. Die schönen und die traurigen Ereignisse. Das Gute überwiegt eindeutig, sagt sie und lächelt: "Ich hatte sehr viel Glück in meinem Leben." Sie blickt gelassen auf das, was noch kommt.

Draußen neigt sich ein bewölkter Wintertag dem Ende zu, vereinzelt ziehen Schneeflocken am Fenster vorbei. Die alte Dame schaltet die Stehlampe im Wohnzimmer ein. Auf dem Tisch liegt ein Stapel Bücher, lauter Neuerscheinungen. Sie liest sehr viel, besonders gern Biografien. Gerade ist sie mit Obamas Memoiren beschäftigt, im Original, mehr als 700 Seiten, "sehr gut geschrieben. Die politischen Verästelungen sind auf Englisch nicht leicht zu lesen, aber die Passagen über Michelle sind entzückend". Daneben liegt ein neues Buch über die Widerstandskämpferin Cato Bontjes van Beek: "Leben will ich, leben, leben". Von der Titelseite blickt einen eine selbstbewusste junge Frau an. Sie wäre jetzt 100, drei Jahre älter als Gerda May - wenn die Nazis sie nicht am 5. August 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet hätten.

Dass sich heute jemand hinstellt und sich mit Sophie Scholl vergleicht, macht sie fassungslos

Gerda May wird immer wieder einmal als Zeitzeugin befragt. Denn sie kannte einige der Widerstandskämpfer, auch wenn sie selbst damals noch ein Teenager war und nichts von deren politischen Aktivitäten wusste. "Sie waren jung und wollten nur ihr Leben genießen, wie wir alle", sagt sie. "Es ist entsetzlich, dass so viele Menschen in diesem mörderischen Regime sterben mussten." Cato Bontjes van Beek gehörte zur Roten Kapelle in Berlin. Sie stammte aus einer freisinnigen Künstlerfamilie, ihr Onkel Otto Modersohn hatte die Kolonie in Worpswede mitgegründet. "Ich bin sehr gefasst und habe mich völlig mit dem Schicksal ausgesöhnt", schreibt die 22-Jährige am Tag ihrer Hinrichtung an ihre Mutter, und: "Ich habe keinen Hass und bin niemandem gram. Ich liebe die Menschen wie vorher."

"Sie waren so mutig, diese Menschen, und es waren viel mehr gegen Hitler, als man denkt", sagt Gerda May jetzt. "Aber wer sich öffentlich äußerte, landete sofort im Gefängnis." Dass sich heute jemand hinstellt und seinen "Widerstand" gegen die "Corona-Diktatur" mit Sophie Scholl vergleicht, macht die alte Dame fassungslos. Die Vergangenheit, sagt sie, darf man nie vergessen. "Man weiß immer noch zu wenig übers Dritte Reich." Alle kennen die Weiße Rose, aber die Rote Kapelle? Den Namen gaben die Nazis der Gruppe, nachdem sie ein abgefangener Funkspruch auf deren Spur geführt hatte. Es war ein loser Zusammenschluss vieler kleiner Kreise, denen mehr als 200 Menschen angehörten. Adelige und Kommunisten, Offiziere und Arbeiterinnen, Künstlerinnen und Beamte. Fast die Hälfte waren Frauen. Sie verfassten Flugblätter, versteckten Juden und geflohene Häftlinge. 119 von ihnen wurden im Sommer 1942 verhaftet, 59 ermordet. Die Männer wurden in Plötzensee erhängt, die Frauen geköpft.

Im Zentrum dieser Bewegung standen Harro Schulze-Boysen, Oberleutnant im Reichsluftfahrtministerium, und seine Frau Libertas, die in der Bildstelle des Propagandaministeriums arbeitete und dort Fotos von den Gewaltverbrechen an der Ostfront zu Gesicht bekam, bevor diese der Zensur zum Opfer fielen. Die beiden waren Nachbarn von Gerda May in Berlin, Altenburger Allee 19. "Der elegante Leutnant und seine schöne Frau", sagt sie jetzt und deutet auf das Schwarz-Weiß-Foto der beiden, das in ihrem Bücherregal im Wohnzimmer steht. Sie war damals mit ihren Geschwistern oft bei den "Schu-Boys", wie die beiden von Freunden genannt wurden. "Dann spielten sie uns Schallplatten vor, oder Libertas sang zur Ziehharmonika."

Dass die beiden seit Mitte der 1930er-Jahre im Widerstand waren, ahnte sie nicht. Erst später erfuhr sie, dass Harro Schulze-Boysen zu ihrem älteren Bruder Micha gesagt haben soll: "Du kannst nicht bei uns mitmachen. Das kann ich deiner Mutter nicht antun." Micha fiel schon 1941 auf der Krim, "die Nachricht erreichte uns kurz vor Weihnachten", sagt Gerda May.

Die Verhaftung von Harro und Libertas sei ein Schock für ihre ganze Familie gewesen. "Solange Libertas im Gefängnis saß, wohnte ihre Mutter zeitweise bei uns", erzählt sie. Am 22. Dezember 1942 habe sich die Mutter noch mit einem Tannenbäumchen auf den Weg ins Gefängnis gemacht. Vergeblich. Am selben Abend wurde Libertas getötet. "Ihre Ziehharmonika hat sie meinem jüngeren Bruder Christoph, dem Töffi, vermacht." Briefe von Harro, Libertas und deren Mutter an die Familie May finden sich in Gerda Mays Memoiren.

Sie deutet auf ein Foto, das sie mit Micha vor dem Haus in der Altenburger Allee zeigt. "Ich war zierlich und hübsch und hatte viele Verehrer", sagt sie und lächelt. Doch einer nach dem anderen fiel im Krieg. Wie ging man mit so viel Tod um? "Es war entsetzlich. Aber man war selbst so mit dem Überleben beschäftigt, man konnte Gefühle nicht zulassen."

Familie May hatte sich schon früh den Anthroposophen angeschlossen und schickte die Kinder auf die Waldorfschule. "Wir lebten da in unserer eigenen Welt", sagt Gerda May. "Draußen gab es jene, die für Hitler schwärmten und andere, die ihn hassten, bei uns zuhause wurde nicht viel über Politik gesprochen." Ahnungen gab es freilich.

1933, Gerda war zehn Jahre alt, verbrachte sie einige Zeit bei den Großeltern in Bremen. Sie erinnert sich, dass sie im Dachzimmer saß und einen Abenteuerroman nach dem anderen las. Da hörte sie eines Tages, wie ihr Großvater mit seiner Tochter telefonierte, die einen jüdischen Chirurgen zum Mann hatte. "Er half den beiden, über Paris nach Chile zu flüchten. Hitler hatte ja gleich nach der Machtübernahme angekündigt, was er vorhat" - die Judenverfolgung, die Gleichschaltung aller Institutionen. 1939 wurden die letzten Waldorfschulen geschlossen. "Da konnte ich dann kein Abitur machen."

Doch dann, erzählt Gerda May und schenkt Kaffee nach, "kam mein erster Kairos-Moment". Kairos, der griechische Gott des richtigen Augenblicks. Im Sommer 1939, wenige Wochen vor Kriegsbeginn, mietete ihr Vater bei Familie Bierbichler in Ambach am Starnberger See eine Ferienwohnung auf Dauer. Schon früher hatten sie da die Sommerferien verbracht. Gerda May ist in München geboren, weil der Vater dort Verleger war, bevor er in Berlin als Finanzmakler neu anfing. "Ambach wurde unsere Rettung."

Gerda May besuchte dann dort eine Haushaltsschule. Während die Soldaten in Stalingrad kämpften, ging sie mit ihrer Klasse zum Skifahren. Und auch, als sie in den Arbeitsdienst nach Niederbayern geschickt wurde - "im Dritten Reich musste man ja immer etwas tun" -, hatte sie Glück. "Die Bauern mochten mich, das Fräulein aus Berlin, das bei ihnen den Stall ausmistete." Sie wohnte in einem geräumten Kloster. "Draußen war es eiskalt, aber wir hatten Dampfheizung." Wenn sie nach Berlin fuhr, konnte sie sogar Lebensmittel mitnehmen. Bei einem dieser Besuche lernte sie Florentin kennen, ihre große Liebe. Er stammte aus Rumänien und studierte Maschinenbau. Drei, vier Jahre hielt die Beziehung. Nach dem Krieg erhielt sie einen letzten Brief aus der sowjetischen Besatzungszone. "Ich wüsste sehr gerne, was aus ihm geworden ist", sagt Gerda May jetzt.

"Ich studierte ein Semester, dann brannte die Universität." Sie half, Bücher zu retten

Noch 1944 machte sie in München Abitur. Vorübergehend wohnte sie im Regina-Palast-Hotel, dann zur Untermiete am Nikolaiplatz. Die Wochenenden verbrachte sie in Ambach. Nachdem sie den sogenannten Arier-Nachweis erbracht hatte, durfte sie sich an der Universität einschreiben, Deutsch, Englisch, Geschichte. "Ich studierte ein Semester, dann brannte die Universität." Sie half, Bücher aus der Bibliothek zu retten und schälte Kartoffeln für die Helfer. "Wenn die Bomben fielen, musste man zusehen, schnell in einen Luftschutzkeller zu kommen. Manchmal fand man einen, manchmal waren alle schon besetzt." Das war eben so. Die Angst gehörte zum Alltag.

Dann wurde sie wieder zum Arbeitsdienst verpflichtet, diesmal bei der Maschinenfabrik Uher in Pöcking am Starnberger See. Wenige Wochen vor Kriegsende erhielt Töffi, gerade 16 Jahre alt, seinen Einberufungsbefehl. "Da sagte meine Mutter: Sie haben mir schon einen Sohn genommen, den zweiten bekommen sie nicht." Sie sei nach Bad Tölz marschiert, habe den Töffi aus der Kaserne geholt und versteckt, bis die Amerikaner kamen.

Nach Kriegsende war die Familie wieder vereint. Der Vater kehrte abgemagert, aber lebend von der Front zurück. "Unvergesslich bleibt mir der Gang meiner Mutter mit mir am 8. Mai 1945 nach einem letzten Schneesturm zu Bierbichler. Frierende KZler, die aus dem Zug in Seeshaupt geflohen waren, standen zwischen Männern aus Ambach, als plötzlich Panzer mit amerikanischen Soldaten heranrollten. Ein Offizier sprang herunter und befahl den Deutschen, ihre Kleidung mit den Frierenden zu tauschen. Einen Verweigerer traf ein Schuss ins Bein, während bei meinem Vater der gute französische Kriegsgefangene, der neben uns stand, sagte: Der nicht, der guter Mann." So schreibt Gerda May in ihren Erinnerungen. Flüchtlinge wurden im Haus einquartiert. "Auch die Familie meiner Mutter aus Schlesien. Wir rückten halt zusammen, das nahm man gerne auf sich."

Für Gerda May ging es von da an aufwärts. Sie brachte ihr Studium zu Ende und wurde Waldorflehrerin. 30 Jahre lang unterrichtete sie in der Schule an der Leopoldstraße. Einer ihrer Schüler war Anatol Regnier, der Musiker und Autor. Er hat gerade ein Buch über Schriftsteller im Nationalsozialismus veröffentlicht - und selbstverständlich hat Gerda May auch dieses schon gelesen. "Bei der Lektüre fragte ich mich wieder, warum ich von der Gewalt in der NS-Zeit so wenig mitbekam." War es Kairos, der immer wieder an ihrer Seite stand? War es ihre angeborene Resilienz, selbst in den schlimmsten Momenten nicht zu verzagen? Ihr Glaube? Sie gehört der Christengemeinschaft an, die den Anthroposophen nahe steht. Sie glaubt an ein Weiterleben nach dem Tod. Und sie ging immer positiv und neugierig auf andere Menschen zu. Geheiratet hat sie nie. "Einer wie Florentin tauchte nicht mehr auf", sagt sie.

Dass es jetzt wieder rechte Netzwerke, Morde und Nationalisten im Deutschen Bundestag gibt, "das ist unbegreiflich", sagt Gerda May. "Durch deren Schreierei hört man die Vernünftigen oft nicht mehr. Das war schon damals so." Aber sie glaubt an die Demokratie. "Es gibt große Gegendemonstrationen. Ich bin alt und kann nicht mehr hingehen, aber es sind doch viele junge Menschen, die sich engagieren."

Und gerade jetzt, während der Corona-Zeit, gebe es sehr viel Hilfsbereitschaft unter den Menschen, "da kann man ja auch mal hinsehen". Sie lebt allein, aber einsam fühlt sie sich nicht. Zwar können die Freundinnen aus ihrem Literaturkreis nicht kommen. "Shared Reading ist halt gerade nicht möglich", sagt sie. "Dann lese ich eben allein, und wir telefonieren mehr." Eine Cousine und eine Freundin kaufen ihr ein, sie kocht sich jeden Tag selbst. Zum Geburtstag bekam sie eine Prinzregententorte "und alle Freunde riefen an, es war entzückend". Zu Weihnachten war ihre Großnichte zu Besuch. Und einen Leitsatz fürs neue Jahr hat sie auch noch parat: "Wenn ich Gutes tue, werde ich im nächsten Leben viel Freude haben."

Das Buch von Anatol Regnier "Jeder schreibt für sich allein. Schriftsteller im Nationalsozialismus" kam 2020 im Beck-Verlag heraus; zur Roten Kapelle erschien zuletzt: Cato Bontjes van Beek/Hermann Vinke, "Leben will ich, leben, leben", Elisabeth-Sandmann-Verlag, 2020; Anne Nelson, "Die Rote Kapelle", Bertelsmann 2010; Christian und Sebastian Weisenborn, Hans Woller: "Liebe in Zeiten des Hochverrats", Beck-Verlag 2017; von Christian Weisenborn stammt der Film: "Die guten Feinde. Mein Vater, die Rote Kapelle und ich"

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SZ vom 02.01.2021
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