Süddeutsche Zeitung

Orte mit NS-Vergangenheit:Spuren des Terrors in München

Großbürgerliche Salons in der Maxvorstadt, Bierkeller in Haidhausen, "Lebensborn"-Einrichtungen im Herzogpark: Autor Rüdiger Liedtke zeigt Orte in München, die mit der NS-Geschichte verbunden sind.

Von Jakob Wetzel

Die Spuren ziehen sich durch die ganze Stadt. Sie führen zum Beispiel an die Thierschstraße im Lehel: Dort hatte Adolf Hitler zehn Jahre lang eine Wohnung gemietet. Sie führen auch an die Donaustraße in Bogenhausen oder nach Nymphenburg an die Hanfstaenglstraße; dort stehen Wohnhäuser aus den Dreißigerjahren mit dem Grundriss eines Hakenkreuzes.

Spuren führen auch zu einem Haus an der Jakob-Klar-Straße in Schwabing, in dem Juden eingesperrt wurden, bevor die Nazis sie deportierten und ermordeten. Und andere führen in den noblen Herzogpark. Dort tüftelte der "Lebensborn"-Verein der SS daran, wie sich die Geburtenzahl von nach rassistischen Kriterien erwünschten Kindern steigern ließ.

Es gibt noch viele weitere Spuren. 111 Orte in München hat Rüdiger Liedtke zusammengetragen, die Schlaglichter auf die Geschichte des Nationalsozialismus werfen, und jeder von ihnen erzählt eine andere Geschichte. Liedtke berichtet vom Aufstieg der Nazis in großbürgerlichen Salons in der Maxvorstadt und in Bierkellern in Haidhausen. Er porträtiert das Treiben von Firmen wie Krauss-Maffei und BMW oder von Bauunternehmen wie Sager & Woerner oder Leonhard Moll, die lukrative Geschäfte mit den Nazis machten.

Er führt zu Orten, die für den Terror der Gestapo erstehen oder für den Kult der Nazis um den Hitlerputsch. Und er zeigt Orte, die vom Widerstand erzählen und davon, wie die Stadt München nach 1945 mit ihrer zweifelhaften Vergangenheit als "Hauptstadt der Bewegung" umgegangen ist.

111 Orte auf den Spuren der Nazi-Zeit, das ist angesichts dieser dunklen Geschichte freilich ein riskantes Projekt. Alleine die Schnapszahl im Titel lässt an ein buntes Sammelsurium denken, und dass der Autor für Erläuterungen pro Ort nur jeweils eine kleine Doppelseite zur Verfügung hat, von der auch noch knapp die Hälfte von Bildern belegt ist, macht es nicht besser. Umso erstaunlicher ist es, wie gut Liedtke dieses Buch gelungen ist: Er formuliert pointiert und fasst sich einfach kurz.

Ein bisschen ist das wohl Routine. Liedtke hat bereits mehrere Bücher in diesem Stil geschrieben: zwei Mal "111 Orte in München, die man gesehen haben muss", einmal "111 Orte in München, die Geschichte erzählen" und einmal "55½ Orte rund um das Oktoberfest, die man gesehen haben muss". Nun folgen gewissermaßen die Orte 389½ bis 500½ - wobei das streng genommen nicht ganz korrekt ist, weil es zwischen diesem Buch und den anderen einzelne Überschneidungen gibt.

Liedtke legt dabei keinen klassischen Reiseführer vor, vielmehr lädt er zu Streifzügen ein, die man freilich auch bequem vom Sofa aus unternehmen kann. Denn das Buch schlägt keinen Rundgang vor, und es ist auch nicht nach Themen, Stadtvierteln oder dem geschichtlichen Verlauf gegliedert, sondern alphabetisch. Entsprechend groß ist die Abwechslung. Zum Beispiel folgen die Stelen, die temporär am Platz der Freiheit in Neuhausen an Widerstandskämpfer erinnern, unmittelbar auf die SS-Kaserne in Freimann - und auf die Stelen folgt gleich der Sterneckerbräu im Tal, in dem Hitler 1919 erstmals mit der späteren Nazi-Partei in Kontakt kam, damals noch als Spitzel der Reichswehr.

Im Sterneckerbräu sind heute freilich nur schwer Spuren der Nazi-Zeit zu finden, denn die Wirtschaft existiert nicht mehr. Überhaupt sind mittlerweile mehrere der 111 gesammelten Orte verschwunden. An der Corneliusstraße in der Isarvorstadt etwa stand einst das "Gasthaus Cornelius", in dem die Nazi-Partei 1921 eine Geschäftsstelle eröffnete. Auch hier steht heute ein Neubau. Oder in Berg am Laim: Dort enteigneten die Nazis 1941 einen Trakt des Klosters der Barmherzigen Schwestern, um dort jüdische Münchner vor ihrer Deportation einzusperren. Doch jener Klosterflügel wurde 1980 abgerissen. Heute erinnern an diese Geschichte immerhin noch ein Denkmal und eine Tafel.

Andere Orte dagegen gibt es zwar noch, sie sind aber weitgehend vergessen. Da ist etwa das Priesterhaus neben der Asamkirche an der Sendlinger Straße: In dessen Bibliothek und auf dem Speicher druckten Widerständler im Jahr 1933 heimlich die "Neue Zeitung" der KPD. Ein Mitglied der Marianischen Studentenkongregation unterstützte die Kommunisten; die katholische Kirche und ihr monarchistischer Erzbischof Michael von Faulhaber wussten davon nichts.

Der Ort ist heute nur noch den wenigsten präsent; ebenso wie zum Beispiel, dass die "Arisierung", der organisierte Raubzug der Nazis gegen Juden, in München von einem Haus an der Widenmayerstraße im Lehel aus geleitet wurde: Dort firmierte eine "Vermögensverwertung München GmbH". Unter ihrer Aufsicht wurden Möbel, Immobilien, Kunst und anderer Besitz versteigert, Nachbarn und Konkurrenten hielten sich schadlos. Nach stark in Vergessenheit geratenen Orten wie diesem hat Liedtke offenbar gezielt gesucht. Da erweist sich das 111-Orte-Prinzip als Stärke.

Umgekehrt ist es hin und wieder doch schade, dass manches ob der Kürze ungesagt bleibt. Einmal etwa erzählt Liedtke von Hitlers Freundschaft mit dem Münchner Kunstverlegersohn Ernst Hanfstaengl, genannt "Putzi". Dieser wurde 1931 Auslands-Pressechef der NSDAP, und den Verlag in München führte ab 1958 sein Sohn, ein Patenkind Hitlers - so weit Liedtke. Nur: "Putzi" verkrachte sich nach wenigen Jahren mit dem Regime; 1937 sollte er ermordet werden, er floh. Später, als Kriegsgefangener, half er den US-Amerikanern dabei, Nachrichten aus Deutschland auszuwerten. Und sein Sohn Egon war zwar Hitlers Patenkind, meldete sich im Krieg aber freiwillig zur US-Armee. Hanfstaengl und Hitler, das ist also eher kompliziert. Nur: Dafür ist auf einer Seite zu wenig Platz.

Rüdiger Liedtke: 111 Orte in München auf den Spuren der Nazi-Zeit, Köln: Emons Verlag 2018, 240 Seiten, 16,95 Euro.

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Quelle:
SZ vom 18.12.2018/vewo
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