Kritik:Ein Meer aus Leibern

Kritik: Ein glänzendes Ensemble und glitzernde Silberfolie: das "Narrenschiff" in Nürnberg.

Ein glänzendes Ensemble und glitzernde Silberfolie: das "Narrenschiff" in Nürnberg.

(Foto: Jesús Vallinas)

Goyo Monteros begeisternde Balletturaufführung "Narrenschiff" am Nürnberger Staatstheater

Ja, ist denn schon Weihnachten? Es glitzert auf der Bühne der Nürnberger Oper, als hätten alle Mitarbeiter ihre Lametta-Vorräte ausgepackt. Dabei haben die Bühnenbildner Leticia Gañan und Curt Allen Wilmer nur ziemlich viel von dem Material in die Hand genommen, aus dem die Rettungsdecken gemacht sind, die Flüchtende nach ihrer Fahrt übers Meer wärmen. Und ein Meer ist es auch, was in Goyo Monteros zweiteiliger Ballett-Uraufführung über die Bühne wogt; ein Meer aus Leibern, dessen fließende, hochkomplex miteinander verschlungenen Bewegungen einzelne Körper wie Schaumkronen nach oben tragen - und wieder untermischen. Denn die Gemeinschaft ist es, um die es hier geht. Ihr utopisches Potenzial, ihre Fragilität und ihr Scheitern.

Dass ein prominenter Gast wie die russische Primaballerina Diana Vishneva sich so geschmeidig ins Nürnberger Ballett-Ensemble einfügt, ist einer von vielen Glanzpunkten des Abends. Die unprätentiöse Grazie und darstellerische Kraft, mit der sie auf vielen der besagten Schaumkronen tanzt, ist ein anderer. Den ersten Teil des Abends - "Maria" - hat Montero der Ausnahmekünstlerin auf den Leib choreografiert. Vishneva ist Maria Magdalena, die Vertraute und vielleicht Geliebte Jesus', der von mehreren Tänzern verkörpert wird. Das wirkt ein wenig promisk, aber nie frivol, sondern unterstreicht die Souveränität einer Frau, die mit den Männern auf Augenhöhe agiert.

Mögen die anderen mitunter auch die Hölle sein - wir sind an sie gefesselt

Spektakulär ist aber auch das Zusammenspiel des glänzend aufgelegten Ensembles mit der versteiften Silberfolie, die sich zur bedrohlichen Wellenwand auftürmt, zur schützenden Höhle wölbt oder gewendet zum goldenen Baldachin wird, von dem die Tänzer Stücke abreißen, um sich damit in schillernde Stelen zu verwandeln oder sie zu Kreuzbalken zu rollen. Wie nah Leid und Wonne beieinanderliegen, erzählen auch die teils aus dem Orchestergraben, teils vom Band kommende Musik von Lera Auerbach ("Dialoge mit Stabat Mater", nach Pergolesi) und die von Monteros Hauskomponist Owen Belton neu interpretierten "letzten Lieder" von Richard Strauss: Partituren, so anspruchsvoll und multiperspektivisch wie Monteros Choreografie. Michel Foucaults "Wahnsinn und Gesellschaft", Sebastian Brants Satire "Narrenschiff" - ein Bestseller von 1494 - und Hieronymus Boschs gleichnamiges Gemälde sind nur drei der Quellen, aus denen sich der zweite Teil des Abends speist, in dem die Tänzer die genderneutralen Kleidchen des Beginns gegen Narrenkappen und insektenartigen Brust- und Beinpanzer getauscht haben.

Auf der Suche nach einem besseren Leben wagen einige ein kesses Solo, anderen ist unter der Last, die sie tragen, die Lust darauf vergangen. Es sind die (vergeblichen) Hoffnungen und Überlebenskämpfe vergangener Menschheitsgeschlechter wie der Flüchtenden an den heutigen Grenzen Europas, die Montero hier zeigt. Und wie er das tut, das ist zu gleichen Teilen traurig und schön, konkret und abstrakt, Augenschmaus und Nahrung fürs Hirn: Folienlianen, die an Stacheldraht erinnern, werden zum Boxring oder auf einer ganz aus Körpern gebildeten Galeere wie Peitschen geschwungen. Zwei Tanzende sind während eines hinreißenden Duetts an den Köpfen durch einen strumpfartigen Schlauch verbunden. Und ja: Mögen die anderen mitunter auch die Hölle sein - wir merken es ja auch in der Pandemie -, wir sind an sie gefesselt und ohne ihre Solidarität verloren. So zauberhaft hat man diese existenzielle Binse aber noch nie serviert bekommen: Sopranistin Emily Newton singt vom letzten Abendrot und großen Schlaf, das Folienmeer wölbt sich im blutroten Licht - und inmitten der Toten setzt der nächste Narr zu einem lustigen Tänzchen an. Dieser sacht utopische Abend auf der Höhe der Zeit ist ein Geschenk!

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