Haar:Wenn eine Psychiatrie umzieht

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Die Patienten aus Haar beziehen jetzt ihre neue Klinik in Fürstenfeldbruck. (Foto: Stephan Rumpf)
  • Die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Haar zieht in den Neubau nach Fürstenfeldbruck.
  • Das alte Gebäude, das um 1900 erbaut wurde, ist renovierungsbedürftig und passe nicht mehr zur modernen Auffassung einer Psychiatrie.
  • Die neue Klinik verfügt über 88 Betten und soll unter anderem auch mehr ambulante Behandlungen und Hometreatment anbieten.

Von Meredith Haaf

Jemand muss sich in Frau Sprossers* Zimmer entkleidet haben. Jedenfalls liegen, als sie am Mittwoch Nachmittag vom Aufenthaltsraum zurück kommt, ein Paar zertretene Männerlatschen und eine Hose auf dem Boden neben den zwei Kisten, die sie bereits gepackt hat, für den Umzug morgen. Einen Zimmernachbarn, dem die Sachen gehören könnten, hat Frau Sprosser genau so wenig wie einen Schlüssel, um abzusperren. Geschlossene Türen werden vermieden im Haus Sieben der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Haar. Eine Wut, wie man sie schon bekommen könnte, wenn man im eigenen Zimmer einen Haufen miefender fremder Klamotten findet, hat Frau Sprosser auch nicht, was am Tavor liegt, einem starken Beruhigungsmittel.

Die 38-jährige Frau nimmt es gegen die Angst, die sie seit ein paar Monaten davor hat, alleine zu sein oder auf der Straße oder im Supermarkt und aktuell auch vor dem Bus, der morgen kommen und sie abholen wird. "Ich bin schon froh, dass meine Mama mich bald besuchen kann", sagt sie, aber sie klingt natürlich nicht sehr froh dabei, und dann sagt sie noch: "Oder meine Tochter vielleicht. Schau ma mal." Sie hat Angst, sagt sie, weil sie ja gar nicht weiß, wie das wird. Mit dem Bus. Und mit der neuen Klinik.

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Die Station zieht um. Das alte Haus Sieben, erbaut um 1900 herum, hat zwar einen schönen Garten und eine Veranda, doch drinnen sind die Flure lang, die Zimmer düster und renovierungsbedürftig. Genau, wie man sich so eine Anstalt eben vorstellt. In Fürstenfeldbruck wartet dagegen eine neue Klinik auf ihre Patienten - das sind diejenigen, die aus den Landkreisen Dachau und Fürstenfeldbruck kommen, so wie Frau Sprosser zum Beispiel. Der Standort Haar soll in den nächsten Jahren deutlich kleiner werden.

Das hat verschiedene Gründe, unter anderen den, dass eine große Zentralklinik für die gesamte Region nicht in die moderne Auffassung von Psychiatrie-Organisation passt. "Wir können die Menschen viel besser behandeln, wenn sie in der Nähe ihres Zuhauses sind", sagt Chefärztin Gabriele Schleuning, die nicht nur für die Leitung in Haar, sondern auch für die Planung und Konzeption in Fürstenfeldbruck tragend verantwortlich ist. "Da ist es leichter für Angehörige, zu besuchen. Und wenn man es nach einem Aufenthalt bei uns nicht so weit zurück hat in den Alltag, kann man auch viel schneller wieder hinein finden", sagt sie.

Eine etwas ungewöhnliche Reisegruppe

Und so steht am Donnerstagmorgen um halb neun eine Reisegruppe von zwölf akutpsychiatrischen Patienten an der Tür und wartet auf den Bus. Um sechs wurden sie von der Stationsleiterin geweckt, um ihre letzten Sachen zu packen. Eine schick frisierte Dame aus Maisach, die sich - gelinde gesagt - intensiv mit der Germanischen Medizin des antisemitischen "Doktor" Hamer beschäftigt und der Frage, ob das mit dem Holocaust nicht doch ganz anders war.

Eine nicht so schicke Dame, die ab und an brüllt: "So, geht's hier nach Gröbenzell?" Ein junger Mann, der seine Kopfhörer nicht absetzt, niemanden ansieht und mit den Fingern zum Rhythmus der Musik die Nähte seiner Kleider abfährt. Die zarte Frau Sprosser, ganz in schwarz, tappt vorsichtig die Stufen zum Bus hoch und setzt sich ziemlich weit vorne hin. Sie stopft die Hände in die Tasche und wispert nur "Schau ma mal", dann kneift sie die Augen zu und drückt sich in den Sitz.

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(Foto: Stephan Rumpf)

Überwachungsmonitore zeigen die alten Zimmer im renovierungsbedürftigen Haus Sieben in Haar.

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(Foto: Stephan Rumpf)

In Fürstenfeldbruck beziehen die Patienten lichte Zimmer.

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(Foto: Stephan Rumpf)

Es gibt freundliche Aufenthaltsräume...

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(Foto: Stephan Rumpf)

...und einen Innenhof.

Der Bus fährt los. Ganz hinten neben der Dame mit der rechtsradikalen Psychose sitzt dann noch Veronika Schmoller aus Erding, dreißig Jahre alt. Frau Schmoller zeigt Powerpoint-Präsentationen, die sie beim Warten auf den Bus mit zwei anderen Frauen vorbereitet hat, über ihre jeweiligen Männer und den Hass, den sie auf sie verspüren. "Uns war so langweilig, wir wären fast verrückt geworden, wenn wir es nicht schon wären!", sagt sie und lacht.

Nach Haar gekommen ist sie, nachdem sie sich drei Autos an einem Tag gekauft hatte: "Ich verdien eh bald 2400 Euro in der Woche", erklärt sie, und dass sie an der Ostsee ein Hotel eröffnen werde und natürlich für ihre 35 Mitarbeiter dann auch drei Autos braucht. "Hey Schatzi, willst du für mich arbeiten?", ruft sie einem hübschen jungen Mann um die zwanzig zu. Doch der hat andere Sorgen: "Bevor ich nach Haar gekommen bin, habe ich RTL geguckt und da hat Angela Merkel gesagt, sie will alle Ausländer abschieben, auch die, die hier geboren sind. Aber ich will hier bleiben, Frau Merkel, ich will in Deutschland sterben, so schaut's aus!"

In der Mitte des Busses sitzt Oberarzt Sigfried Hueber und sagt, es sei völlig klar, dass psychiatrische Patienten sich mit Medienthemen beschäftigen - seien es Verschwörungstheorien oder eben die Einwanderungspolitik: "Ein Merkmal einer psychischen Störung kann sein, dass man Dinge auf sich bezieht, die gar nichts mit einem selbst zu tun haben. Nach dem Amoklauf in München hatten wir zum Beispiel einige Patienten, die geglaubt haben, sie seien Schuld", erklärt er. Langsam wird er nervös. Der Fahrer hat sich entschieden, im Berufsverkehr quer durch die Stadt zu fahren, es dauert schon über eine Stunde und der Bus ist immer noch nicht auf der Autobahn.

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Die Patienten werden unruhig, die Fahrt dauert deutlich länger als angekündigt. Viele wollen rauchen oder wenigstens etwas essen. Doch es gibt hier drinnen kein Ventil für die eigene Anspannung und kein Entkommen vor der Anspannung der anderen. "Die Patienten sind ja gut beieinander insgesamt", sagt Hueber, der in Haar bislang die Station dieser Patienten geleitet hat, "aber für jeden von denen sind jetzt zusätzliche fünf Minuten, die sie nicht in einer entspannten Umgebung sind, sehr anstrengend." Das blasse Mädchen in der Reihe vor ihm, kaum zwanzig, zittert leicht und verkriecht sich immer tiefer in ihren Pulli. Frau Sprosser hat sich seit einer Stunde überhaupt nur einmal bewegt, als ihr Telefon klingelt und ihre Tochter ihr erzählt, dass die anderen sie in der Schule heute wieder geärgert haben.

Als der Bus nach zwei Stunden endlich ankommt, drängen die Patienten an die frische Luft. Die Klinik liegt hell und neu mitten in einem Wohngebiet zwischen Ein-Familien-Häusern. Die neuen Nachbarn werden sich aneinander gewöhnen müssen, das weiß auch Goran Peric, der die Leitung der Akutpsychiatrie neu übernommen hat und in Fürstenfeldbruck wohnt. Es sind nicht alle Anwohner begeistert von der Vorstellung, Haus an Haus mit Kranken zu leben. Peric sagt: "Es gibt einige Vorurteile und Missverständnisse auszuräumen."

Trotzdem: Die Stimmung an diesem Donnerstag ist gut, die Neuankömmlinge werden von den Mitarbeitern, von denen übrigens niemand Kittel trägt, durch die nagelneuen Räume geführt. Tatsächlich ist der Bau noch längst nicht abgeschlossen, die Stationen im Obergeschoss werden erst in einigen Wochen in Betrieb genommen. Doch auf der Akut-Station sind die Besprechungszimmer und Küchen eingerichtet und verglast, selbst die Ruheräume für Patienten, die Abstand brauchen, sind so gestaltet, dass sich hier niemand weggesperrt fühlen muss.

Die neue Klinik will auch ein Hometreatment anbieten

Goran Peric hat bereits mit Gabriele Schleuning in Haar gearbeitet - sie haben vor, in Fürstenfeldbruck vieles anders zu machen. In der neuen Klinik soll sich zum Beispiel das Aufnahmeverfahren ändern: "Wir wollen weg von der Vorstellung, dass ein Patient immer erst mal bei uns bleiben muss." Stattdessen gibt es ein breites Angebot an ambulanten Behandlungen von der Tagesklinik bis zum so genannten Hometreatment, einem relativ neuen Ansatz, bei dem Patienten im eigenen Zuhause behandelt werden. Das ist auch nötig, weil das Haus mit 88 Betten nicht gerade riesig wird.

Frau Sprosser schüttelt den Kopf, wenn sie an zu Hause denkt. "Nein, das wäre nicht gut für mich", sagt sie. Dann sagt sie nichts mehr. Manchmal möchte sie ja nicht einmal, dass ihre Tochter kommt, auch wenn sie ihr fehlt. "Ich will mich wieder um sie kümmern", sagt sie, und fängt an, ihre Kiste auszupacken. Ganz langsam fasst sie jeden Gegenstand an, als wäre sie sich nicht sicher, was es ist, was sie in den Händen hält. Doch durch das Fenster scheint Herbstsonne und wenn Frau Sprosser die Zimmertür gleich zumacht, hat sie Ruhe und Licht.

* Alle Patientennamen wurden geändert

© SZ vom 15.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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