Nachruf:"Lasst euch eure Gedanken nicht nehmen"

Nachruf: Ruth Meros drängte sich nie in den Vordergrund, Wichtigtuer konnte sie nicht ausstehen.

Ruth Meros drängte sich nie in den Vordergrund, Wichtigtuer konnte sie nicht ausstehen.

(Foto: privat)

Ruth Meros, eine der letzten Zeitzeuginnen des Holocaust in München, ist im Alter von 98 Jahren gestorben

Von Jakob Wetzel

Ruth Meros ist nie müde geworden. Bis vor wenigen Wochen noch war ihr Kalender prall gefüllt - auch mit Verabredungen ins Café, denn sie hatte viele Freundinnen und Freunde. Doch einen festen Platz hatten in diesem Kalender auch die Jungen. Immer wieder besuchte sie Schulen, zumindest bevor diese wegen des Coronavirus schließen mussten. Dann erzählte Meros den Jugendlichen von dem, was sie vor vielen Jahren in München erleben musste, und was nicht in Vergessenheit geraten darf. Erst Anfang März besuchten sie zwei Schülerinnen in ihrer Schwabinger Wohnung, für eine Klassenarbeit.

"Lasst euch eure Gedanken und eure Gefühle nicht nehmen, dann braucht ihr keinen Führer", das war einer jener Sätze, die Meros Schülern gerne sagte. "Werdet misstrauisch, wenn euch jemand seine Meinung als die einzige aufdrängen will." Oder auch: "Macht euch ein eigenes Bild. Glaubt keinem, der Menschen ausgrenzt, nur weil sie anders aussehen, anders sprechen, anders glauben."

Ruth Meros wusste, wovon sie sprach. Sie ist im März 1922 in München geboren worden. Als sie noch nicht ganz elf Jahre alt war, wurde Adolf Hitler Reichskanzler, und die kleine Ruth war plötzlich allein. Sie wisse nicht, ob die Lehrer das den anderen Kindern aufgetragen hätten, sagte sie später einmal, doch keine Mitschülerin, kein Mitschüler habe mehr mit ihr gesprochen. Und als sie 1938 sah, wie die Münchner Synagogen brannten, wusste sie, dass ihre Familie in ihrer Heimat nicht länger sicher war. Die 16-Jährige arbeitete damals im jüdischen Kindergarten; am Morgen des 10. November sah sie Feuerwehrleute vor der immer noch brennenden Synagoge an der Herzog-Rudolf-Straße stehen, doch sie löschten nicht, sondern sahen nur zu. An der Maximilianstraße sah sie, wie Nazi-Schläger das Ladengeschäft eines jüdischen Münchners verwüsteten, und die Menschen standen da und schauten zu. Ihren Vater, der im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft hatte und nun einen Großhandel für Schneiderbedarf führte, verschleppten die Nazis ins Konzentrationslager Dachau. Was sie der Familie nicht bereits 1933 geraubt hatten, musste diese nun bezahlen, um den Vater freizukaufen. 1939 floh die Familie über die Schweiz nach Palästina.

Doch sie kehrte zurück. Anfang der Sechzigerjahre kam Ruth Meros wieder nach München, mit ihren Eltern, ihrem Mann und ihrer in Tel Aviv geborenen Tochter. Anfangs ging es darum, die "Wiedergutmachung" zu klären, doch die Familie blieb. Von den Siebzigerjahren an lebte Meros immer abwechselnd in München und in Tel Aviv.

Gegenüber den Münchnerinnen und Münchnern, besonders den jüngeren, war Meros versöhnlich. Zurück in München, knüpfte sie bald wieder Kontakte zu Menschen, die sie aus ihrer Kindheit kannte. Etwa mit ihrer Klavierlehrerin, die sie unterstützt hatte, oder mit der Hausangestellten, die tröstend für sie dagewesen war, wenn sie von der Schule nach Hause gekommen war. Doch Meros war auch konsequent. Mit alten Nazis traf sie sich nicht. Auch AfD-Wähler, sagte sie oft, wolle sie in ihrem Umfeld keine sehen. In den vergangenen Jahren warnte sie vor dem wieder erstarkenden Antisemitismus, sie setzte sich für ein würdiges Erinnern auf Augenhöhe ein, und hin und wieder ging sie demonstrieren, gegen Antisemitismus, für Israel. Doch sie drängte sich nie in den Vordergrund, Wichtigtuer konnte sie nicht ausstehen. Sie traf sich lieber mit Schülern, um zu erzählen.

Am Ende habe Meros die Corona-Krise zugesetzt, erzählt ihre Tochter. Sie litt nicht unter dem Virus, aber unter der Isolation, darunter, dass sie keine Freunde mehr treffen konnte und keine Jugendlichen. Erinnerungen an ihre Schulzeit seien hochgekommen. Die Feier zu ihrem 98. Geburtstag, lange geplant, musste sie absagen, sie sollte nachgeholt werden, sobald sich die Lage bessern würde.

Ruth Meros war eine der letzten jüdischen Münchnerinnen, die den Holocaust überlebt und danach wieder in München gelebt hatten, trotz der Vergangenheit, trotz der ständigen Unsicherheit: im Land der Täter, das ihnen trotzdem Heimat war. Am Dienstag vergangener Woche ist sie im Alter von 98 Jahren gestorben.

Am Donnerstag wurde sie - wegen der Beschränkungen - im kleinen Kreis bestattet. Sie habe "einen Teil der jüdischen Geschichte unserer Stadt geschrieben", sagte Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, am Grab. Sie habe "niemanden kennenlernen dürfen, der so hingebungsvoll und mit einer solchen Freude für die Menschen um sich herum gelebt hat wie sie". Es war ein viel zu kleiner Kreis.

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