Nachruf:Für immer Kind

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Spielzeugwelten, in denen die Wirklichkeit nichts verloren hat: Binette Schroeder 2010 in der Blutenburg. (Foto: Stephan Rumpf)

Von der Kunst der magisch-poetischen Verzauberung: Illustratorin und Autorin Binette Schroeder ist mit 82 Jahren in Gräfelfing gestorben.

Von Christiane Raabe

Anfang des Jahres 2021 erhielt ich von Binette Schroeder eine bezaubernde Neujahrskarte. Sie zeigt einen etwas zu lang geratenen Herrn in Gehrock, mit Fliege, Schnauzer und Hut, der hoch konzentriert auf einer Hand die Zahl 21 balanciert, während die andere auf einen mit roten Beeren übersäten Boden zeigt. Zwischen den Beeren liegt die Zahl 20. Wie ich heute weiß, ist der Mann Herr Grau, Hauptfigur ihres letzten Bilderbuchs.

Das Corona-Jahr 2020 war für die vielfach ausgezeichnete Illustratorin Binette Schroeder ein produktives Jahr. Wie im Rausch arbeitete sie an der Geschichte von Herrn Grau, einem weltabgewandten Grübler, dem die unkonventionelle Nachbarin und Künstlerin Fräulein Fröhlich die Melancholie und Nachdenklichkeit austreiben wird. Fräulein Fröhlich ist eine lebensfrohe, zierliche Person. Unbekümmert bringt sie Farbe in das graue Leben des freudlosen Nachbarn. Sie ist eine jener Figuren, die nur Binette Schroeder schaffen konnte: grazil, kindlich und autonom. Alter Egos der Künstlerin wie ihr Lupinchen und ihre Laura.

Mit Lupinchen, der Geschichte einer unglücklichen Puppe, die durch eine abenteuerliche Weltreise, durch ein Spielzeugreich gerettet wird, ist Binette Schroeder 1969 bekannt geworden. Damals hatte sie bereits ein Kunststudium in Basel erfolgreich abgeschlossen, das für sie ein Leben lang prägend war. Insbesondere in der Fachklasse für Grafik bei Armin Hofmann lernte sie den Weg vom Schwarz-Weiß über unzählige Grau-Studien zur Farbigkeit, ein künstlerischer Prozess, den sie in ihrem letzten Bilderbuch noch einmal durchspielt.

Die Liebe zur Kunst und zum Theater bringen der 1939 in Hamburg geborenen Binette Schroeder die Mutter, eine Kostümbildnerin, und ein Großvater nahe. Mit ihm sieht sie sich Bildbände von Brueghel und Bosch an, die ihr einen wohligen Schauer bereiten. Bereits in der Schule in Garmisch-Patenkirchen, wo sie aufwächst, illustriert sie selbstverfasste Geschichten. Während des Kunststudiums entsteht das erste Bilderbuch "Lelebum", aber am Ende ist es der Zufall, der sie 1968 mit dem Verleger von Nord-Süd, Dimitri Sidjanski, zusammenführt. Er entdeckt ihr Talent und wird zum wichtigen Mentor.

1969 erscheint "Lupinchen", in dem bereits alles angelegt ist, was die Illustrationskunst Binette Schroeders ausmacht. Sie belebt Spielzeugwelten, in denen die Wirklichkeit und Moderne nichts verloren haben. Ihr Bilderbuchkosmos entsteht in der Fantasie und wird mit fantastisch-surrealen Landschaften ausgestaltet. Im Laufe ihrer künstlerischen Entwicklung wandeln sich die Spielzeugwelten, die sie auch in "Archibald und sein Rot" (1970) oder in "Ratatam" (1973) entwirft, zu Traumwelten, in denen die Landschaften Stimmungen und Empfindungen wie Einsamkeit, Trauer, Furcht und Freude widerspiegeln. Es sind keine wirklichen Landschaften, sondern Gefühlszustände, die durch eine differenzierte Farbigkeit und das magische Spiel mit Licht und Schatten erzeugt werden. Die Kunst der magisch-poetischen Verzauberung hat sie in ihrem vielleicht persönlichsten und vielschichtigsten Bilderbuch "Laura" (1999) vollendet.

Spielzeugwelten, in denen die Wirklichkeit nichts verloren hat, ... (Foto: NordSüd Verlag AG, Zürich/Schweiz)
... und das gekonnte Spiel mit Farben, Licht und Schatten ... (Foto: NordSüd Verlag AG, Zürich/Schweiz)
... prägen das Werk von Binette Schroeder. Die Illustrationen stammen aus dem "Bilderbuchbrunnen". (Foto: NordSüd Verlag AG, Zürich/Schweiz)

Neben eigenen Geschichten und denen ihres Mannes Peter Nickl illustrierte Binette Schroeder Texte von Michael Ende und Märchen. Viel diskutiert wurde ihr "Froschkönig" (1989), den sie mit atmosphärisch dichten, symbolisch aufgeladenen Bildern als Entwicklungs- und Emanzipationsdrama einer jungen Frau inszenierte. Im Froschkönig arbeitete sie erstmals mit sequenziellen Erzählstrecken, nahm später, etwa in "Ritter Rüstig & Ritter Rostig" (2009), zudem Comicelemente auf, um Bewegungen nachzuzeichnen oder Gefühle wie Ärger und Zorn zu verstärken.

Wer Binette Schroeder kannte, liebte ihren Witz, ihre sprühende Begeisterungsfähigkeit und ihre mitreißende Art zu erzählen. Sie war eine leidenschaftliche Sammlerin von Bilderbüchern, die regelmäßig Vorträge hielt und Werkstattbericht gab. 2011 errichtete sie eine Stiftung zur Förderung der internationalen Illustrationskunst, da ihr eine handwerklich gekonnte und emotional berührende Bilderbuchkunst sowie die ästhetische Erziehung der Kinder ein Herzensanliegen waren. "Eine gute Illustration zu machen bedeutet, in sich selbst zu sein, sich selbst zu finden.", sagte sie einmal und fügte hinzu: "Ich male für das kleine Mädchen von früher, das immer noch in mir steckt." Nun sind beide, das kleine Mädchen und die große Künstlerin, für immer verstummt.

Christiane Raabe ist Direktorin der Internationalen Jugendbibliothek.

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