Süddeutsche Zeitung

Nach der Revolution:"Die ganze jüngere Generation ist aus dem seelischen Gleichgewicht gekommen"

München 1919: Trümmer und Invalide in den Straßen, die Essensrationen sind erbärmlich, die Bauern liefern nicht. Gleichzeitig wird getanzt, gesoffen und gehurt. Und die Menschen werden empfänglich für radikale Ideen.

Von Stefan Mühleisen

München im März 1919 ist eine Stadt der Frühaufsteher. Denn wer nicht früh aufsteht in diesen Zeiten, der kann sich auch gleich wieder schleichen, weil es eh keinen Sinn hat - so darf man sich die zermürbten Kommentare der Münchner vorstellen, zum Beispiel am 11. März 1919, im Angesicht der Menschenschlange vor der Nordsee-Fischhalle am Viktualienmarkt.

Von einer "Doppelreihe an der Ost- und Nordseite der Fleischbank entlang und um die Heiliggeistkirche herum" berichtet die Stadtchronik, die auch überliefert, dass es an diesem Tag nur 8000 Heringe gibt. Einige Tage später wird es auch noch bitter kalt, Wintereinbruch. Und der Wirtschaftsexperte Benno Merkle trägt dem Rätekongress ein Gutachten vor. Demnach reichen die Lebensmittel in München nur noch bis Ende Mai, dann ist Schluss.

Es ist eine elende Zeit. Schon während des Kriegs wird die Versorgungslage immer desaströser, das Geld immer weniger wert. Die Krise erfasst alle Lebensbereiche der Bürger, die den Epochenbruch als "Verkehrte Welt" erleben, wie es Historiker Martin H. Geyer in einer Studie nennt. Die Erfahrung von Tod und Not, von militärischem Bankrott und Staatszerfall fegt die Euphorie hinweg, mit der die Freiwilligen 1914 in eine vermeintlich ruhmreiche Zukunft marschiert waren. Die oft beschworene "Einigkeit des Volkes" zerbricht.

Die Verkehrung der Welt nimmt bereits 1916 ihren Anfang, als die Brutalität aus dem Morast der Schützengräben ins Bewusstsein der Menschen in München sickert. "Wir wollen Frieden!", schreit es von Flugblättern, oder auch: "Nieder mit den Großkopferten!" Die Münchner haben es satt, nicht satt zu werden; 2000 Menschen machen beim "Hungerkrawall" am Marienplatz ihrer Wut Luft, liefern sich Handgemenge mit Schutzmannschaften, Fenster gehen zu Bruch.

Frust herrscht auch in privilegierten Kreisen, etwa bei Schriftsteller Thomas Mann. "Essen, Kleider, Schuhe, Kohle, Seife, Schreibpapier, alles was wir berührten, rochen und schluckten, war Ersatz, erbärmliches und schundiges Zeug", schreibt Thomas Manns Sohn Klaus in seinen Erinnerungen.

Erbärmlich sind auch die Rationen, mit denen sich die 647 000 Einwohner im Frühjahr 1919 begnügen müssen. Der jährliche Pro-Kopf-Fleischverbrauch sinkt beständig, von 68,3 Kilo im Jahr 1914 auf 18,5 im Jahr 1919 (heute sind es rund 87 Kilo).

"Der weitaus größte Prozentsatz der großstädtischen Bevölkerung ist einfach nicht in der Lage, die wichtigsten Lebensmittel Milch, Brot, Eier und Fett in den dafür notwendigen Mengen zu erhalten", empört sich noch im April 1920 der Münchner Hausfrauenverein in einer Eingabe an den Landwirtschaftsminister. Schulärztliche Untersuchungen dokumentieren die Mangelernährung der Kinder in jenen Jahren. Erwachsene sind derart geschwächt, dass bis Ende 1919 mehr als 600 Personen an einer Grippe-Epidemie sterben.

Unterdessen haben die offiziellen Stellen Mühe, die Bauern zum Abliefern ihrer Ernte zu bewegen. Die Lohnentwicklung ist durchaus positiv, der Stundenverdienst der Metallarbeiter verdoppelt sich zwischen 1914 und 1918. Doch die Preissteigerungen verkehren dies ins Gegenteil: Zwischen Kriegsbeginn und -ende ziehen die Preise für Kuhfleisch um 135, für Margarine um 162, für Leinenhosen um 1200 Prozent an. Gewerbetreibende, Festbesoldete, Beamte, sie sind "infolge der entsetzlichen Entwertung des Geldes (...) zu einem wirtschaftlichen Proletariat herabgesunken", meldet das Pressereferat des Bayerischen Kriegsministeriums schon 1917.

Der Krieg und die Krise nivellieren die sozialen Unterschiede. 13 725 Münchner verlieren als Soldaten im Krieg ihr Leben, fast jede Familie ist betroffen - und die meisten vertrauen dem Staat nicht mehr. Es entsteht, was Historiker Geyer eine "Selbsthilfegesellschaft" nennt: Da der Staat nicht länger für Ordnung sorgt, organisieren sich die Münchner selbst, auf Rätekongressen, in Einwohnerwehren - und in Gewerkschaften. Deren Mitgliederzahlen haben sich bis 1919 im Vergleich zum Vorkriegsniveau fast verdreifacht.

In ihrer Not zerlegen Passanten schon mal ein erschossenes Artilleriepferd auf offener Straße vor dem Warenhaus Tietz beim Hauptbahnhof, wie ein Foto vom 11. Mai 1919 zeigt. Das Stadtbild ist geprägt von Tausenden heimgekehrter Soldaten, vielen Invaliden. Hupend kurven sie mit Militärautos herum, reißen Offizieren die Schulterstücke ab. Widerborstigkeit ist die Haltung der Stunde, was Pädagogen wie Josef Hofmiller, konservativer Lehrer am Ludwigsgymnasium, zu spüren bekommen. "Die ganze jüngere Generation ist aus dem seelischen Gleichgewicht gekommen", vermerkt er in seinem Tagebuch über das rebellische Betragen der Schüler.

Verkehrte Welt auch hier: Trotz der Not herrscht Aufbruchstimmung, eine pazifistisch und republikanisch gestimmte Jugend sieht eine neue Zukunft heraufziehen. Frauen schneiden ihre langen Zöpfe ab, tragen jetzt figurbetonte Kleider. Bei Männern sind die schneidigen Schnauzbärte der wilhelminischen Ära jetzt verpönt. In den ersten Januartagen 1919 stellen die Münchner Neuesten Nachrichten eine "pandemische Tanzseuche" in den Lokalen fest. Fast hysterisch wird gefeiert, "man lebt nur kurz und ist so lange tot", lautet ein Refrain. Oskar Maria Graf, damals Bäckergehilfe, wird später einräumen, dass er in jenen Tagen "Sekt saufen und zu Huren gegangen" sei, während andere für die Revolution gekämpft hätten.

Dazu schwappt eine Flut von Versammlungen über die Stadt, flankiert von Aushängen, Flugblättern. In Bierhallen, auf Betriebsversammlungen, überall wird heftig diskutiert. Wobei die Masse der Münchner kaum Zeit für Politik hat, gilt es doch, dringende Probleme zu regeln. Im Dezember 1918 erfasst die Stadtverwaltung 10 624 Wohnungssuchende; es gibt rund 30 000 Arbeitslose. Den Menschen ist klar, dass sie Zeugen einer Zeitenwende sind, die Verhältnisse auf dem Kopf stehen. Arbeiter und Künstler wie Ernst Toller und Erich Mühsam üben politische Herrschaft aus; ein Volksschullehrer wie Johannes Hoffmann kann Ministerpräsident werden.

Schon kurze Zeit nach der Räterepublik und ihrer blutigen Niederschlagung schauen die Zeitgenossen auf eine irrational anmutende Zeit zurück. Der gegenrevolutionäre Diskurs hat auch in München die vernehmlichste Stimme, sie besagt: Die Revolution sei von Ausländern beziehungsweise Nichtbayern, Juden sowie Literaten gemacht worden. Argumentationshilfe gibt's von ärztlicher Seite, namentlich vom Universitätsprofessor Emil Kraepelin: Der Psychiater diagnostiziert schon im Sommer 1919 eine "hysterische Massenpsychose", erzeugt durch "Kriegsneurotiker", zu denen er ausdrücklich Ernst Toller zählt, eine der "minderwertigen, unfähigen, vielfach auch böswilligen Persönlichkeiten".

Ein gewisser Adolf Hitler sollte das später so oder so ähnlich ebenfalls immer wieder behaupten. Wobei der gescheiterte Putschist und Agitator in der Zeit des Aufschwungs Mitte der Zwanzigerjahre Touristen als kuriose Münchner Gestalt vorgestellt wird. Das Stadtbild von München, so heißt es in einem damaligen Reiseführer, habe ihn, Hitler, verschluckt. "Er ist nur noch ein historisches Exkrement."

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SZ vom 23.03.2019/bhi
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