Nachbarschaft:Hinter Perlachs hoher Mauer

Nachbarschaft: Nach der Kritik gegen die Wand ist es nun ruhiger geworden. Zurückgeblieben sind Parolen.

Nach der Kritik gegen die Wand ist es nun ruhiger geworden. Zurückgeblieben sind Parolen.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Vor einem Jahr gab es große Aufregung wegen der Wand neben einer Asylunterkunft. Dort sind nun Frauen mit ihren Kindern eingezogen. Zeit für die Anwohner, auf die andere Seite zu schauen.

Von Anna Hoben

Neugierig wären sie ja schon. Wer da jetzt wohnt, da drüben. Dass es Frauen und Kinder sind, das haben sie gelesen, aber mehr wissen sie auch nicht, obwohl sie quasi die direkten Nachbarn sind. "Man sieht und hört ja nichts", sagt Edeltraud Obwandner. Es klingt ein bisschen verwundert. Nun, das könnte daran liegen, dass Menschen sich im Winter bevorzugt drinnen aufhalten. Es könnte aber auch daran liegen, dass die Mauer ihren Zweck erfüllt, als "Lärmschutzwand" ist sie schließlich gebaut worden.

Neugierig wären sie ja schon. Aber, so sagen Edeltraud und Josef Obwandner, jetzt sollen die neuen Bewohner erst mal ganz in Ruhe ankommen in Neuperlach.

Die andere Seite: Nailastraße 10, das weiße Haus mit den großen türkisen Fensterläden, Mittagszeit. Eine Frau backt in der Küche eine Torte, mit einem Nudelholz rollt sie den mit Lebensmittelfarbe pink gefärbten Teig aus. Eine andere Bewohnerin kehrt mit ihren Kindern gerade vom Einkaufen zurück, sie schiebt einen Zwillingswagen. "Ich habe Schokolade gekauft", verkündet ein Mädchen. Es treffen weitere Frauen und Kinder ein, und für kurze Zeit bricht auf dem Flur die Anarchie der Zwei- bis Fünfjährigen aus. "Ja, es ist sehr lebhaft hier", sagt Rebecca Schreiber und lacht. Sie leitet die Einrichtung, die der Verein Condrobs als sozialer Träger betreibt, zusammen mit der Frauenhilfe München und Pro Familia.

Es wurde auch Zeit. Unbegleitete jugendliche Flüchtlinge sollten ursprünglich einziehen. Doch dann kamen kaum noch welche nach München. Mehr als ein Jahr lang standen die Häuser leer. Die ersten - und lange einzigen - Bewohner waren zwei Spechte, so erzählen Nachbarn. Seit Dezember wohnen nun 23 Frauen und 18 Kinder in dem mittleren der drei Gebäude. Bis Juni werden noch Küchen und Sanitäranlagen umgebaut, dann sollen laut Sozialreferat weitere Bewohnerinnen einziehen. Bis zu 150 sollen es eines Tages sein.

Katrin Bahr ist Bereichs-Geschäftsführerin bei Condrobs, sie führt durch das Haus. "Es ist ein Glücksfall", sagt sie. Vor allem für die Bewohnerinnen. In ihrer vorherigen Unterkunft in Ramersdorf schliefen sie zu achtzehnt in einem Schlafsaal, auch Schwangere und Neugeborene. "Es gab keine Privatsphäre." Die Frauen seien glücklich, nun mehr Ruhe zu haben, mehr Platz. In den 14-Quadratmeter-Zimmern stehen je zwei Betten. Manche Frauen sind allein aus ihren Heimatländern geflohen, andere haben sich in Deutschland von ihren Ehemännern getrennt. Viele sind schwer traumatisiert, alle haben besonderen Schutzbedarf. Sie kommen aus Nigeria, Eritrea, Somalia, Uganda und Afghanistan.

Was sie für Wünsche haben, was für Träume? Dass sie für sich und ihre Kinder selbständig sorgen können. Dass sie in Deutschland bleiben und Fuß fassen können. Manche sehnen sich nach einer Partnerschaft. Eine eigene Wohnung in München steht bei allen oben auf der Wunschliste. Elf Kinder wurden geboren, als die Frauen noch in der alten Unterkunft lebten. Sie sind jetzt alle ein Jahr alt.

Nachbarschaft: "Man hört und sieht nichts", sagen Edeltraud und Josef Obwandner (r.), die nebenan wohnen.

"Man hört und sieht nichts", sagen Edeltraud und Josef Obwandner (r.), die nebenan wohnen.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Ungefähr so alt wie die Mauer von Neuperlach. Anwohner hatten das 200 000 Euro teure, vier Meter hohe Bauwerk gerichtlich über Jahre von der Stadt erstritten, weil sie angesichts von fußballspielenden Jugendlichen um ihre Ruhe fürchteten. Als das Ding schließlich stand, erschraken alle. Guido Bucholtz vom Bezirksausschuss Ramersdorf-Perlach stellte ein Drohnenvideo ins Netz, es zeigte die Mauer in ihrer Monstrosität. Daraufhin brach über Neuperlach das herein, was Josef Obwandner einen "weltweiten Shitstorm" nennt.

Internationale Medien berichteten über die neue deutsche Mauer. Ein paar Tage war die Hölle los in Neuperlach. Dann wurde es wieder ruhig. Zurück blieben Parolen an den Häusern der Nachbarn: "Nazis", "Rassisten", "Drecksfaschos". Auch die Mauer wurde besprüht, der Schriftzug "Walls create strangers" (Mauern erzeugen Fremde) zieht sich bis heute in knallroten Lettern über das Bauwerk - zur Unterkunft hin. "Steht auf der falschen Seite", stellt Katrin Bahr von Condrobs lakonisch fest. Klar hatte sie sich Gedanken gemacht, wie die Frauen auf die Mauer reagieren. Erstaunlicherweise: gar nicht. Sie werde kaum wahrgenommen, was in erster Linie wohl daran liege, dass die Frauen ganz andere Sorgen hätten.

"Ich dachte auch immer, die Mauer sei ein Symbol"

Raus aus der Unterkunft, ein kleiner Spaziergang zur Mauer. Auf dem Weg zwischen Reihenhaussiedlung und Lärmschutzwand geht eine Frau mit ihrem Hund spazieren. Ein ganzes Stück muss man von der Nailastraße aus diesen Weg entlanggehen, bis man auf der rechten Seite mal etwas anderes sieht als die Mauer. Katrin Bahr zuckt mit den Schultern. "Man könnte auch sagen, es ist ein Schutz vor neugierigen Blicken für uns."

Vor Weihnachten haben sie die Anwohner in die neue Flüchtlingsunterkunft eingeladen, zu Tee und Plätzchen. Der Leiter des Wohnungsamtes war dabei, der Vorsitzende des Bezirksausschusses, alle sieben Kläger, welche die Mauer von der Stadt erstritten haben. Es war ein gutes Gespräch, sagt Bahr. Die Nachbarn hätten normale Fragen gestellt und keine Vorbehalte geäußert gegenüber den Bewohnerinnen: Was machen die Frauen den ganzen Tag? Besuchen sie Deutschkurse? Warum brennt hier immer Licht? "Ich dachte auch immer, die Mauer sei ein Symbol für die Mauer in den Köpfen", sagt Katrin Bahr. "Das hat sich im Gespräch mit den Nachbarn für mich relativiert." Viele hätten Spenden angeboten oder gefragt, ob ihre Kinder zusammen spielen könnten.

Noch sieht es nach Umzug aus in der Unterkunft, in einigen Zimmern stehen Kartons. Mit Spielzeug, mit Kleidung. Es gibt eine große Hilfsbereitschaft, immer noch. Sie haben hier nun sogar zwei Helferkreise: jenen, den sie mitgebracht haben aus der alten Unterkunft. Und jenen, der sich im Viertel gegründet hat. Über ein Jahr hat Letzterer darauf gewartet, dass er endlich mit anpacken darf. "Ohne freiwillige Helfer würden wir es auch nicht schaffen", sagt Katrin Bahr. Zurzeit gibt es neben der Einrichtungsleiterin eine Sozialbetreuerin und eine Erzieherin, die sich um die Frauen und Kinder kümmern. Sie haben viele Pläne: Kunstprojekte, gemeinsames Kochen und Nähen. Vielleicht ein Frühlingsfest mit den Nachbarn. Im Garten sollen zwei Spielplätze entstehen.

Es ist eine Vorzeigeunterkunft geworden, wie viele sie sich erhofft hatten. Josef Obwandner, der Nachbar, Gymnasiallehrer im Ruhestand, hat irgendwann angefangen, Briefe zu schreiben. 2014, als noch von 300 Menschen und von Containern die Rede war, forderte er die Stadt auf, die Flüchtlinge in menschenwürdigen, festen Häusern unterzubringen. Er schreibt immer noch gern. Vor Kurzem war ein Filmstudent da, der einen Film drehen will über die Mauer. Da hat Herr Obwandner mal alles zu Papier gebracht. "Zur unendlichen Geschichte einer Obdachlosen- und Flüchtlingsunterkunft an der Nailastraße, München-Perlach", steht über seiner Kurzabhandlung von sechs Seiten.

Wenn die Obwandners im Garten stehen, dann schauen sie auf die Mauer. Nein, schön ist das nicht. Sie trösten sich damit, dass das Bauwerk an den Seiten noch mehr begrünt werden soll. Nur: So viel begrünen geht gar nicht. Damit die Mauer unsichtbar wird, müsste man schon einen Dschungel drumherum pflanzen.

Und wie sieht man es auf der anderen Seite? Muss die Mauer wieder weg? Oder würde das, tja, zu viel Staub aufwirbeln? Katrin Bahr überlegt kurz, dann sagt sie: "Ich würde sie jetzt integrieren, so wie sie ist." An der anderen Integration arbeiten ihre Mitarbeiter mit aller Kraft. Es ist Leben eingezogen in die Flüchtlingsunterkunft in Neuperlach. Eine Bewohnerin hat einen Schuhabstreifer vor ihr Zimmer gelegt. "Home Sweet Home", steht darauf.

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