Es sei kein Naturgesetz, dass die SPD in München keine Wahlen mehr gewinnt, sagte Alt-Oberbürgermeister Christian Ude in dieser Woche in einem SZ-Interview. Wer wissen will, ob das stimmt, der ruft am besten Axel Berg an. Der hat, man glaubt es kaum noch, vor nicht langer Zeit dreimal hintereinander für die Münchner SPD im Münchner Norden das Direktmandat bei Bundestagswahlen geholt, 1998, 2002 und 2005. 2005 bekam er fantastische 43,7 Prozent der Erststimmen.
Am vergangenen Sonntag lag die SPD stadtweit noch bei 16,2 Prozent. Doch es ist nicht so, dass SPD-Funktionäre nun reihenweise bei Berg anrufen würden, damit er ihnen erklärt, wie es geht. Sie haben ihn seinerzeit in die Wüste geschickt, er war ihnen zu parteifern. "Wenn ich einen öffentlichen und einen Parteitermin gleichzeitig hatte, habe ich immer dem öffentlichen Termin den Vorrang gegeben", sagt Berg im Rückblick. Das bekommt einem nicht gut, wenn man Münchner SPD-Mann ist.
Er bekam einen schlechten Platz auf der Liste, flog am Ende aus dem Bundestag, ist heute 58 Jahre alt, lebt immer noch in München - und wird nicht gebraucht. In den Wahlkämpfen damals im Münchner Norden hatte er für Furore gesorgt, weil er sich einfach mit seinem Bus irgendwo hinstellte und den Bürger suchte - statt sich hinter Infoständen zu verschanzen. "Ich war ihnen zu individuell", sagt er. "So ist das halt." Wie seine SPD heute dasteht, macht ihn fassungslos. "Die Partei zerbröselt, man kann richtig zugucken."
Die Partei, die im Übermaß fixiert ist auf sich und ihre Gremien und dabei das richtige Leben vernachlässigt - das ist eine Diagnose zum Münchner Wahldebakel, die man nun öfters hört. Stimmt sie auch? Fakt ist, dass die Münchner SPD noch stärker abgeschmiert ist als im bayern- und bundesweiten Schnitt. Fast acht Prozentpunkte verloren, nurmehr drittstärkste Kraft hinter CSU und Grünen, die FDP kommt schon kurz danach. Es liege daran, dass die Münchner SPD ihre Verankerung in praktisch allen wichtigen Milieus verloren habe, urteilte der bis 2014 höchst erfolgreiche Alt-OB Ude harsch.
Auch wenn viele SPD-ler seine beißende Kritik als starkes Stück an Besserwisserei und Egozentrik empfanden: Dass die SPD viele Wähler nicht mehr erreicht und neue kaum gewinnt, das erkennen strategische Köpfe schon an. Am Donnerstagabend traf die Partei sich im Hofbräuhaus zu einer ersten Aussprache und Analyse nach dem verheerenden Ergebnis. Hinter geschlossenen Türen ging es im Parteirat zwei Stunden darum, woran es gehakt hat.
"Wir sind immer dann stark, wenn wir Innovation und Gerechtigkeit im Wahlprogramm und der Wahlkampagne überzeugend den Wählern kommunizieren. Da fehlte sicherlich etwas bei der Bundestagswahl", sagte Stadtchefin Claudia Tausend am Freitag. Die SPD werde nun das enttäuschende Ergebnis analysieren und wolle den Münchnern für die Zukunft "die Antworten liefern, die sie von uns zu Recht erwarten können".
Nur: Wie oft hat man solche Ankündigungen schon gehört? Zuletzt zum Beispiel nach der für die SPD enttäuschenden Kommunalwahl von 2014.
Sebastian Roloff, der als Kandidat im Münchner Süden ein sehr achtbares Ergebnis erreicht hat, nahm das Gefühl mit, "dass man verstanden hat, dass es um mehr geht als um eine Klatsche. Nämlich darum, ob und wie es für die SPD als Volkspartei weitergeht, im Bund und in München." Seine Partei habe ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn es um Inhalte gehe. Nicht Fisch und nicht Fleisch habe man angeboten, immer nur von allem ein bisschen. "Wir müssen uns fragen, warum wir nicht mehr als die Großstadtpartei wahrgenommen werden."
Oberbürgermeister Dieter Reiter ließ seine Partei übrigens alleine über ihre Pleite diskutieren, dafür hielt er am Montag in der Fraktion eine emotionale Ansprache. So dürfe und könne es in der SPD nicht weitergehen, sagte er laut Teilnehmern. Es solle nicht schnell alles besser werden, sondern sofort. Die Mandatsträger und Funktionäre müssten raus zu den Menschen und dort für ihre Politik werben. In einer Analyse stimmte Reiter sogar mit seiner Münchner Parteispitze überein: Die Fraktion ist ihm zu brav, zu sehr in Nischen unterwegs, zu wenig präsent mit eigenen Ideen.
Die Frage aber ist, zu welchen Menschen sie denn gehen soll. Eine Stammwählerschaft, also Menschen, die der Partei so treu ergeben sind wie der Hund seinem Herrchen, hat die SPD schon lange nicht mehr - jedenfalls nicht in relevanter Größe. Aber woran liegt das? Ludwig Eiber hat eine Antwort: "Die Zahl der Leute, die als Arbeiter eingestuft werden, nimmt ab - auch in München." Eiber ist Historiker, Professor an der Universität Augsburg, und als Zweiter Vorsitzender des Archivs der Münchner Arbeiterbewegung beschäftigt er sich unter anderem mit der städtischen Industriekultur.
Was diese betrifft, ist der Wandel an allen Ecken und Enden der Stadt zu bemerken: "Schauen Sie sich doch mal um: Siemens zum Beispiel hat seine ganze Produktion abgebaut. Früher ist in Sendling oder an der Balanstraße noch produziert worden - jetzt sind da irgendwelche Neue-Medien-Geschichten drin, na ja, jedenfalls keine handfeste Produktion."
Und die verbliebenen kleinen Leute erreiche die SPD nicht mehr, zumindest nicht in ausreichendem Maße. Menschen aus diesem Milieu, die früher links gewählt hätten, stimmten heute für die AfD. Warum? Weil die SPD an Glaubwürdigkeit verloren habe. "Wer von Hartz IV lebt, sagt da nur: Was nutzt mir das?" So einer erwarte die konkrete Zusage, dass Hartz IV oder die Rente aufgestockt werde. Eiber: "Im Großen und Ganzen geht die Politik der SPD an den Problemen dieser Leute vorbei. Und irgendwann ist deren Geduld am Ende."
Auch Hildegard Kronawitter hat den Weg der SPD über viele Jahrzehnte verfolgt. Die Witwe von Udes Vorgänger Georg Kronawitter saß selbst zehn Jahre lang für die SPD im Bayerischen Landtag. Heute engagiert sie sich in der Erinnerungsarbeit, leitet die Weiße-Rose-Stiftung, die eine Gedenkstätte für die Widerstandsgruppe in der Ludwig-Maximilians-Universität betreibt. Ja, die klassischen Milieu-Bindungen gingen verloren, sagt sie. Aber das liege wenig an der Partei, sondern an der Entwicklung der Gesellschaft. Und das gehe nicht nur den Sozialdemokraten so, sondern allen.
"Die Gesellschaft individualisiert sich", sagt Kronawitter. In einer Großstadt wie München sei das besonders stark zu spüren. Mehr als 100 000 Menschen zögen jedes Jahr neu in die Stadt, fast ebenso viele zögen weg, wie sollten da noch ähnlich feste Milieus entstehen wie früher? Was das konkret bedeutet, könne man beispielsweise an Sportvereinen sehen, sagt Kronawitter - sie selbst war einmal stellvertretende Vorsitzende des SV Neuperlach. Die Sportangebote würden von den Menschen nach wie vor gerne angenommen, sagt sie. "Aber es entsteht oft kein engeres Zugehörigkeitsgefühl mehr."
Vielleicht also sollte der kommenden Rathausfraktion der SPD nach der Kommunalwahl "lieber eine Vereinsvorsitzende eines Sportvereins als fünf Experten für Sport" angehören. Das wünscht sich ein Fraktionsmitglied. Viele finden, dass es nun gilt, einen Schalter umzulegen: Die SPD in München war es lange Zeit gewöhnt, dass das Volk mehr oder weniger alleine zu ihr kam, wenn sie ihr Angebot zur Wahl stellte. Nun muss die SPD raus zum Volk.
Auch wenn es offen noch niemand wagt, natürlich wird auch darüber gesprochen, wer dafür die Richtigen sind. Auf die Liste der Stadtratsfraktion für die Kommunalwahl 2020 sollen auch neue Kräfte. Und nicht nur solche, die den in der SPD geliebten Gremien genehm sind. Wenn Axel Berg gefragt wird, ob man heute noch Wahlen gewinnen könne für die Münchner SPD, überlegt er kurz. Und sagt dann: "Ich glaube schon." Denn schließlich sei München eine "zappelige Stadt" und nicht festgelegt auf rot oder schwarz. "Das hier ist kein Stammwählervolk."