Süddeutsche Zeitung

Nach dem Abriss:Uhrmacherhäusl in Giesing: "Ein Gewaltakt wie im Krieg"

Viele Menschen regen sich über den illegalen Abriss auf. Der Platz, an dem das Haus stand, ist zu einer Art Wallfahrtsort geworden.

Von Marco Wedig und Alfred Dürr

Der Altar ist nur provisorisch zusammengezimmert: eine Holzkiste, vier Grablichter, eine Aster in einem Plastiktopf. Es ist eine merkwürdige Trauerzeremonie, die sich in den letzten Tagen in Giesing abspielt.

Ständig kommen neue Menschen hinzu und bleiben mitten auf der Straße stehen. Sie starren auf die Überreste, schütteln den Kopf, schießen ein Foto. So auch Gerta Weidner, die seit 1956 im Viertel wohnt. "Ich bin entsetzt", sagt sie, "bei diesem Anblick kommen mir die Tränen."

Nein, hier an der Oberen Grasstraße 1 ist niemand gestorben. Und doch wurde hier etwas zu Grabe getragen: ein "durch gewissenlose Grundstücksspekulanten zu Tode gekommenes unwiederbringlich zerstörtes Stück Obergiesinger Heimat", so steht es auf einem Schild am Bauzaun, der die Trümmer umschließt.

Gemeint ist das 1840 errichtete, denkmalgeschützte Uhrmacherhäusl. In nur wenigen Minuten wurde es am 1. September plattgemacht. Ohne Genehmigung. Seitdem ist die mit Schutt gefüllte Baulücke zu einem Gedächtnisort geworden. Seitdem diskutiert die ganze Stadt über den Verlust der historischen Bausubstanz und den Gewinn, den der dahintersteckende Unternehmer damit vermeintlich einzufahren gedenkt.

Eigentümer eines Nachbarhauses haben einen Anwalt beauftragt, zivil- rechtliche sowie strafrechtliche Schritte wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung zu prüfen. "Ein Gewaltakt wie im Krieg. Ein Krieg der Gier", steht auf einem weiteren Bauzaunschild. Andreas Uhanyan ist aus Untergiesing mit dem Fahrrad hierher gefahren. Er sieht den Abriss als Folge einer Entwicklung, die schon seit Jahren im Stadtteil tobt. Aus den Wohnungen solle möglichst viel Profit geschlagen werden.

Dass selbst denkmalgeschützte Wohnungen nicht sicher seien, habe bereits der Abriss der Birkenau 12 gezeigt. Das alte Untergiesinger Kutscherhaus, das zur gleichen Zeit wie das Uhrmacherhäusl erbaut worden war, wurde im Sommer 2011 abgerissen. Wie damals gibt es auch heute Protest, doch wirkt dieser um einiges größer. Dienstagabend zogen rund 200 Menschen, darunter viele Löwen-Fans, Fackeln tragend durch Giesing. Ein gespenstisches Bild.

Ist denn heute etwas anders als noch vor ein paar Jahren? "Die Zeit ist reif", sagt Michael Seitz, ein direkter Anwohner aus der Oberen Grasstraße. Die Veränderungen im Viertel seien so weit fortgeschritten, dass viele sie nicht mehr mittragen würden. Seitz hatte sich am 31. August noch dem Bagger entgegen gestellt. An jenem Tag wollte das Unternehmen CSH Baubetreuung schon zur Tat schreiten. Der Abriss folgte dann am nächsten Tag.

Zwei Fragen stellen sich nun für viele Münchner: Was passiert auf dem Grundstück? Und welche Konsequenzen muss der Bauherr tragen? Bevor Andreas Uhanyan wieder davon radelt, fordert er eine drastische Strafe. "Das Recht muss bis zum Äußeren ausgereizt werden, damit niemand auf die Idee kommt, so etwas wieder zu tun."

Ein Nachbau würde nie heranreichen an das Original, sagt ein Anwohner

Damit stößt er auf offene Ohren: Neben anderen Politikern hat nun auch Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU), in dessen Ressort die Denkmalpflege fällt, den Abriss verurteilt. Spaenle begrüßt die Überlegungen der Fachbehörden, dass nicht nur eine Ordnungsstrafe verhängt wird. Er hält auch Forderungen der Denkmalpfleger für sinnvoll, dass anstelle des abgerissenen Hauses nur ein Gebäude errichtet werden darf, das in Größe und Gestalt dem verschwundenen Handwerkerhaus entspricht.

Wenn es nach dem Anwohner Michael Seitz geht, sollte auf dem Grundstück ein modernes, einstöckiges Haus entstehen, kein Nachbau. Dieser würde qualitativ nie an das Original heranreichen. Er wünscht sich, dass dort ein Ort der Begegnung für den Stadtteil entsteht. Vorerst befindet sich dieser noch vor dem Bauzaun.

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Quelle:
SZ vom 09.09.2017/bhi
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