Süddeutsche Zeitung

Diskriminierung:"Es ist ein unangenehmes Gefühl, sich fremd zu fühlen"

Lesezeit: 4 min

Von Sabine Buchwald

Jeder Tag ist für sie eine Herausforderung, wie sie sagt: die Tochter in den Kindergarten zu bringen, mit der U-Bahn an die Uni zu fahren oder auch nur in einen Aufzug mit anderen zu steigen. Über solche Alltäglichkeiten denken andere Mütter kaum nach. Die 36-Jährige, die anonym bleiben möchte, aber muss sich ständig dazu überwinden, weil sie Angst hat. Angst vor anderen. Auf der Rolltreppe stehend sei sie bespuckt worden, erzählt sie, einfach so. Und neulich hörte sie das Wort "Idiot" in ihre Richtung gesprochen, weil sie den Kaufhauslift ein Stockwerk eher anhielt, als die Mitfahrer es wollten.

Ein weiterer Angriff auf ihr Selbstbewusstsein, von dem sie sich erst wieder erholen muss. Sie reibt sich mit dem Taschentuch über die wachen, braunen Augen und sagt: Sie suche nach Erklärungen, warum die Leute das machen. Sich auf Deutsch differenziert auszudrücken, das ist für sie kein Problem, solche Diskriminierungen zu verstehen, schon.

Bevor sie nach München kam, in ihrem Geburtsland Algerien, war ihr Bild von Deutschland anders, als es sich jetzt für sie darstellt. Sie hatte die Idee von einer hoch entwickelten Demokratie, in der jeder tun und sagen kann, was er möchte. Sie stellte sich vor, von gut ausgebildeten, reflektierten Menschen umgeben zu sein. Dass sie hier nach bald acht Jahren immer noch so wenig integriert sein würde, hatte sie nicht erwartet. "Es ist ein unangenehmes Gefühl, sich fremd zu fühlen", sagt sie.

Am Donnerstagabend sitzt die Frau im Flüchtlingsprojekt Bellevue di Monaco und hört, wie es anderen Musliminnen - wie sie alles Akademikerinnen - geht. Unter dem Titel "Was guckst du?" berichten fünf junge Frauen über ihren Alltag in München. Die Moderatorin Suli Kurban und die aus Bosnien stammende Amra tragen kein Kopftuch in dieser Runde. Rabia, Merwe, Ghofran und die zum Islam konvertierte Bettina, gebürtige Niederbayerin, haben ihre Haare vollkommen bedeckt, so wie die Mehrheit der Frauen im Publikum. Etwa 80 Leute sitzen im Kreis um die Diskussionsteilnehmerinnen. Es wird ein Abend des Austausches.

Gut zweieinhalb Stunden geht es kreuz und quer durch Befindlichkeitswelten, vor allem aber um diskriminierende Erlebnisse im Alltag als Muslimin in München. Mit dem augenscheinlichen Anderssein geht jede der Frauen auf ihre eigene Weise um. Es sind starke, gebildete Frauen, die Strategien entwickelt haben, ihren Glauben offen zu leben. Die auffällig geschminkte Ghofran, die als studentische Hilfskraft im Krankenhaus jobbt, sucht immer wieder das Gespräch mit Menschen, möchte erklären, wer sie ist, was der Islam für sie bedeutet. Von einem älteren Patienten wurde sie einmal als "Islamistin" bezeichnet. Das hat sie mehr amüsiert als verletzt, weil ihm die Begriffe nicht klar gewesen seien, sagt sie. Aber das kostet Energie.

"Warum ist es normal in Deutschland, so viele Dönerbuden zu haben, aber schon ein kleines Minarett wird zum Problem?"

Merve steckt die ihre in die Arbeit mit muslimischen Jugendlichen an Schulen. Denen werde Druck gemacht, Fragen zu beantworten, etwa wie sie zur Homosexualität stehen. Viele müssten sich ständig rechtfertigen für ihre Religionszugehörigkeit. Sie erzählt, dass der Sportunterricht für Mädchen oft zum Problem werde. Mit Kopftuch turnen? In der Regel nicht erlaubt, der Stoff könne sich ja irgendwo einklemmen. Rabia sagt, sie würde heute nicht mehr gerne in die Schule gehen müssen: "Es ist um einiges schwieriger geworden." Überhaupt habe sie längst keine Lust mehr auf Aufklärungsarbeit. Sie erzählt von ihrem ersten Schultag am Gymnasium vor vielen Jahren. Eine fremde Frau habe sie damals auf der Treppe umarmt und ihr Mut zugesprochen. Das habe ihr Kraft gegeben. Heute würde sie womöglich anders reagieren. "Mein Kleidungsstil kann nicht zur Diskussion stehen."

Immer wieder das Kopftuch. Es beschäftigt Gesetzgeber und Gerichte. Bettina ist Gymnasiallehrerin, verheiratet mit einem Imam. Sie unterrichtet ohne Kopfbedeckung. Die sei nur erlaubt, wenn "es den Schulfrieden nicht störe", sagt sie. Im bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz geht es knapp formuliert um die Wahrung der "christlich-abendländischen Bildungs- und Kulturwerte", die Lehrerinnen das Tragen in der Regel versagt. Sie habe nicht die Kraft für den Kampf, ihr Kopftuch durchzusetzen, gibt Bettina zu. Und sie erzählt, wie sie ihre Kinder zurückhalte, damit sie möglichst wenig auffallen. Niemand solle denken, sie seien schlecht erzogen.

Amras Eltern stammen aus Bosnien. Sie ist dunkelblond, hat blaue Augen, ist in einem kleinen Ort im Sauerland aufgewachsen. "Ich glaube, ich habe es einfacher als ihr", sagt sie und berichtet aber auch, wie sehr es sie früher genervt habe, immer wieder Alkohol ablehnen zu müssen und sich zu erklären. "Warum ist es normal in Deutschland, so viele Dönerbuden zu haben", fragt sie in die Runde, "aber schon ein kleines Minarett wird zum Problem?" Ein Widerspruch von vielen. Die Mehrheitsgesellschaft - so werden an diesem Abend alle bezeichnet, die nicht muslimischen Glaubens sind - verhalte sich oft uneindeutig, unsicher und vor allem intolerant. "Ich will in einer Gesellschaft leben, in der wir als normal gesehen werden", sagt eine Frau aus dem Publikum. Sie wolle sich nicht für ihr Kopftuch und ihren Glauben rechtfertigen müssen.

Genau darum geht es immer wieder an diesem Abend: um die Selbstverständlichkeit, in einer Gesellschaft leben zu können, in die man hineingeboren wurde, die man sich gar nicht ausgesucht hat. In die man vielleicht hineingerutscht ist, indem man einem Mann nachgefolgt ist, der von Algerien nach Deutschland geflohen war. Alle, die hier sind, haben keine andere Heimat als München. Die meisten sind wohl gut integriert, sehen aber wegen ihrer Kopfbedeckung nicht so aus.

An diesem, farblich meist perfekt zur Kleidung abgestimmten Stück Stoff entzünden sich die Konflikte. Ist es ein Zeichen radikalen Glaubens? Ein Zeichen für die Unterdrückung der Frau? In Iran riskieren Frauen ohne Kopftuch hohe Strafen. Warum es also freiwillig tragen? Als ein älterer Mann im Publikum eine Antwort dazu möchte, wird diese Frage umgehend als "zu intim" abgeblockt. Suli Kurban sagt, sie habe vor der Veranstaltung eine ganze Liste von Fragen bekommen, die sie nicht stellen dürfe.

Echte Offenheit ist schwierig zu leben, wenn man sich angegriffen und alleingelassen fühlt. So wie die 36 Jahre alte Mutter aus Algerien. Sie muss wie alle hier versuchen, ihre Erfahrungen zu verarbeiten und positiv zu bleiben. Immerhin kann sie sagen: "Ich denke jeden Tag, morgen wird es besser." Es gibt kein Zurück, die Gesellschaft wird immer pluralistischer. Darin sind sich an diesem Abend alle einig.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4214276
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 17.11.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.