Süddeutsche Zeitung

Musiktheater:Singen zwischen Plexiglas

Beseelte Oper unter anderen Umständen in der Pasinger Fabrik

Von Jutta Czeguhn

"Stirb!" Ohne sich allzu weit aus dem Fenster zu lehnen, wohl noch nie hat eine Tosca das Scheusal Scarpia so kontaktfrei, getrennt durch eine Plexiglasscheibe, in die Hölle befördert. In der übersichtlich bestuhlten Wagenhalle der Pasinger Fabrik geschieht genau das, die Szene mit Karolína Plicková und Philipp Gaiser ist hochdramatisch und komplett schlüssig. Der Spuckschutz, unverzichtbar an der Supermarktkasse, hat an diesem Premierenabend eine tragende Rolle, er ist zentrales Requisit, eine Schauspielerin verschiebt ihn, je nach Szene. Bei Tosca verdeutlicht die Wand, wie unantastbar die Diva doch für einen Dreckskerl wie Scarpia bleibt. Zudem schützt sie natürlich die Akteure untereinander vor den heimtückischen Aerosol-Wolken. Und wie die Masken und Handschuhe, die die Sängerinnen und Sänger ständig abstreifen und wieder überziehen, sollen die transparenten Trennscheiben, so das Regie-Konzept, keinen Augenblick vergessen lassen: Das hier ist Ausnahmezustand. Das ist nicht Oper, wie wir sie uns vorstellen.

Dabei hättet er leicht und ausgelassen sein sollen, der Sommer 2020 in Münchens wohl kleinstem Opernhaus, mit Paul Lincke Operette "Frau Luna". Doch statt "die Berliner Luft, Luft, Luft" zu trällern, kam für die Sänger der Lockdown und sie mussten damit umgehen lernen, dass man sie nun als besonders effektive Viren-Schleudern betrachtet. Fabrik-Maestro Andreas Pascal Heinzmann legte also die Lincke-Noten beiseite. Und als endlich für die Fabrik das Signal zum Neustart mit dem Sommerfrische-Festival kam, stellte er für diese Rumpf-Saison in aller Kürze ein 75-minütiges, ungewöhnliches Opern-Pasticcio zusammen; Arien, Duette und Terzette von Mozart, Massenet, Puccini und Wagner, feinsinnig orchestriert - nur für Klavier. Am Premierenabend ist es die wunderbare mazedonische Pianistin Rebeka Stojkoska, der Heinzmann sanfte Einsätze gibt, mit der zusammen er quasi übergangslos Atmosphären schafft in dieser "Opera frizzante", so der Projekttitel.

Von Zwischenapplaus sieht das Publikum schnell ab, was irgendwie auch Zeit spart. Fasziniert vergisst so mancher, sogar am Weißweinglas zu nippen. Doch wird hier keine Nummern-Revue geboten. Auch wenn sich anfangs noch alles so schwerelos anfühlt - obwohl auf deutsch gesungen wird. Bezaubernd ist Mezzo Carolin Ritter mit Musettas Walzer aus "La Bohème", auch das Terzettino aus "Così fan tutte" gelingt hinreißend. Doch dann verdunkeln sich die Farben, passend zum Schwarz der Bühne und den Kostümen. Erst Charlottes Klagegesang aus "Werther" (Ritter), dann geht's tief hinein ins Wagner-Universum mit Alberichs Hass-Fluch aus dem "Rheingold". Die Stimme von Philipp Gaiser lässt die Wagenhalle vibrieren, bei Wolframs Cavatine "O du, mein holder Abendstern" wird sie ganz lyrisch zart. Wagner, das ist die Überraschung des Abends, funktioniert erstaunlich prächtig im niedrigen Fabriksaal. Das Publikum bekommt von den drei großartigen Solisten noch Loge, Sieglinde, Waltraute und Brünnhilde zu hören. Und wenn am Ende die Pianistin die letzten Töne von Debussys "L'âme évaporée" verklingen lässt, und an Heinzmanns Notenpult das Licht verlischt, versteht man, worum es ging an diesem schönen Abend. Um die Seele der Oper.

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Quelle:
SZ vom 13.07.2020
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