Musik:Wie Überwachung heute klingt

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Leonhard Kuhn hat seine eigenen Internet-Nutzerdaten per Computerprogramm in die Musik für "1984" eingebaut. (Foto: Marc Wilhelm/Fuchsrot Creative Media Production)

"Jazzrausch Bigband"-Komponist Leonhard Kuhns erstaunlicher Soundtrack für eine Hörbuch-Neufassung von Orwells "1984"

Von Oliver Hochkeppel, München

Zehn Jahre ist Claus Vesters Hörbuchverlag "cc-live" im vergangenen Jahr alt geworden. Corona verhagelte ihm zwar die Feierlichkeiten (und auch die Bilanzen), nicht aber das Engagement. Angefangen hatte Vester mit Science Fiction und Krimis, zuletzt aber wurde der Verlag immer mehr zum Hort der Aufklärung. Der 2019 gestorbene dänische Familientherapeut Jesper Juul ist schon seit einiger Zeit eine Stütze des Programms, ebenso wie die Werke des großen Psychologen und Psychoanalytikers Arno Gruen, zuletzt kamen politische und philosophische Vordenker wie Nick Bostrom oder Philip Manow dazu. Und verstärkt bringt Vester auch zeitlose, erschreckend aktuelle Klassiker der Gesellschaftskritik neu heraus. Nach Umberto Ecos Essay-Sammlung "Der ewige Faschismus" und Theodor W. Adornos Vortrag "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus" aus dem Jahr 1967 kommt jetzt ein literarischer Meilenstein in neuer Fassung: George Orwells "1984", der Prototyp dessen, was man heute so gerne Dystopie nennt.

Orwells 1948 entstandenes Gedankenspiel von der Welt als großem Gefängnis, dessen Insassen dem Kontrollwahn und der totalen Überwachung des "Big Brother" ausgesetzt sind, ist unlängst auch bei der Konkurrenz erschienen, gelesen von Christoph Maria Herbst und mit einem Vorwort vom Grünen-Chef Robert Habeck. Das fand Vester dann doch etwas zu kabarettistisch. Er vertraute die wunderbare neue Übersetzung von Eike Schönfeld der sachlichen, umso nuancenreicheren Stimme von Axel Wostry an, einem erfahrenen und spezialisierten Sprecher. Vor allem aber hatte Vester die Idee, den Tonfall des Buchs durch eine entsprechende musikalische Begleitung zu unterstützen. Als treuer Unterfahrt-Gänger und Freund des aktuellen, Pop und Rock aufnehmenden Jazz ist Vester ein Fan der Jazzrausch Bigband . Folgerichtig wandte er sich an dessen Chefkomponisten, Arrangeur und Mastermind Leonhard Kuhn. Und der sagte auch gleich zu, obwohl er zuvor noch nie ein Hörbuch vertont oder einen Film-Soundtrack geschrieben hat.

Kuhn, der in München bei Peter O'Mara Gitarre und bei Gregor Hübner Komposition studierte und danach unter anderem als Gitarrist in den Trios Bartomuk und Le Café Bleu sowie als Elektroniker in der Monika Roscher Bigband spielte, ist als Schöpfer des orchestralen Techno-Jazz der Jazzrausch Bigband ganz wesentlich für deren kometenhaften Aufstieg in den vergangenen sechs Jahren mitverantwortlich. Er kombinierte da eine traditionelle Jazz-Besetzung mit einem dafür völlig neuen Musikstil - sozusagen analog dazu sollte er nun den Soundtrack für eine bereits zurückliegende Zukunftsvision schreiben. "Die Musik dazu sollte zugleich retro und futuristisch klingen", beschreibt Leonhard Kuhn die Aufgabe. Vielleicht war es dabei nützlich, dass er bislang eher an Science als an Science Fiction interessiert war. Sein Interesse für Mathematik, Informatik und Philosophie floss schon oft in seine Kompositionen ein, wie man unter anderem Titeln wie "Moebius Strip" oder "Dancing Wittgenstein" entnehmen kann. Akribisch und geradezu wissenschaftlich ging er nun auch bei "1984" vor.

Die Grundstimmung des Werkes spiegelte er mit der Entscheidung für eine technoide, stark rhythmisch geprägte und abgesehen von E-Gitarre rein elektronisch erzeugte Musik. Deren Tempo und Stimmung passte er genau der jeweiligen Atmosphäre der Kapitel an. Vor allem aber machte er sich intensiv Gedanken über das Thema "Überwachung" - wie es Orwell verarbeitete und wohin es sich heute entwickelt hat. "Ich habe Orwells Buch in diesem Zusammenhang ja das erste Mal bewusst gelesen beziehungsweise gehört, und dabei fällt einem auf, dass wir überwachungstechnisch schon viel weiter sind", sagt er.

Er ließ sich also von Amazon seine Nutzerdaten geben und verarbeitete sie per Algorithmus in der Komposition. "Wenn man weiß wie, kann man Buchstabe für Buchstabe herauslesen, was ich mal auf Amazon gesucht habe." Auch die Stimmen, die gelegentlich im Hintergrund auftauchen, sind verfremdete Originale von unverschlüsselten Webcam-Aufnahmen aus dem Internet. So liefert Kuhns Soundtrack also nicht nur musikalische Überschriften und die Grundierung für die jeweilige Stimmung, er führt Orwells Vision auch auf einer Meta-Ebene weiter. Ein Inhalt und Form verblüffend miteinander verschränkendes Experiment, das Orwell sicher gefallen hätte und genau das ist, was sich Vester gewünscht hatte. Und mit dem Kuhn viel Spaß hatte. Ob er denn gerne wieder einen Soundtrack machen würde, vielleicht sogar für einen Film? "Das kann ich mir jetzt gut vorstellen, und es würde mich auch reizen."

George Orwell: "1984" , gelesen von Axel Wostry, Musik von Leonhard Kuhn, 3 Mp3-CDs, cc-live, München 2020

© SZ vom 01.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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