Süddeutsche Zeitung

Musik:Sternengesang

Rainer Hartmann hat die natürlichen Tonfrequenzen der Planeten als Grundlage für sein Projekt "Oriom" genommen

Von Michael Zirnstein

Wie klingen die Planeten? Um sich damit zu befassen, muss man wohl unter einem kristallklaren Sternenzelt leben wie im Allgäu. Man muss schon von Kindheit an einen Hang zu Träumerei und Transzendenz haben, von Wissenschaft so fasziniert sein wie von Musik, man mag also vom leuchtenden Himmelsbild des Orion genauso angetan sein wie von dessen Aufscheinen in einem Prince-Song: "Let me lay you down in the arms of Orion." Und man sollte sich viel Zeit nehmen für die kosmische Klangforschung, dann kann man Antworten geben wie Rainer Hartmann, der erklärt: "Der eigentliche Erdton ist 136,1 Hertz, etwas weniger als ein Cis." In dieser Ton-Himmels-Leiter hätte der Kammerton A 432,1 Hz, also 31,4 Cent weniger als die derzeit gebräuchlichen 440 Hertz, aber es gäbe etliche Musiker, die sich wieder auf diese naturnahere Stimmung einschwingen.

Der kahlköpfige Hip-Hopper, Elektro-, Film-, Theater und Weltmusiker, den man eher unter dem Künstlernamen Rainer von Vielen kennt, steckt tief drin in der Materie: Er experimentiert seit vielen Jahren an den kosmischen Frequenzen, und er kennt die allumfassende Theorien dazu, etwa von dem Schweizer Musikwissenschaftler Hans Cousto. Der hat in den späten Siebzigern ein System für die Töne der Planeten geschaffen, nachdem bereits seit Platon immer wieder Gelehrte und Komponisten wie Johannes Kepler die Bahnen der Gestirne in "Sphärenharmonien" übersetzt haben. Statt wie sie Ton-Intervalle aus den Planeten-Stellungen zu generieren, errechnete Cousto erstmals aus Umlaufzeiten um die Sonne individuelle Urtöne eines jeden Trabanten, und er überführte sie durch Verdoppeln, also Oktavieren in den menschlichen Hörbereich.

Wem das zu kompliziert ist, der sollte es besser hören und spüren. Etwa den in der Erd-Frequenz schwingenden Star-Track "Jahreston" von Rainer Hartmann. Der beginnt mit einem Dröhnen wie das Magenknurren eines Wales. Man fragt sich, ob das ein in der Elektro-Musik gebräuchlicher Drone-Bass ist oder Hartmanns berühmter Kehlkopfgesang nach Art mongolischer Schamanen. Nach zwei Minuten setzt eine suchende Trommel ein, die bald in Beats mündet, die Körper und Seele eine halbe Stunde lang tänzeln lassen. Es schwebt sezierendes Engelsflüstern herein wie von einem singenden Weinglasrand, dies aber sind Obertöne aus dem Innern des Musikers, der - Wunder der Kehle - gleichzeitig brummen und melodisch flöten kann, ganz ohne Techniktricks. "Die Stimme ist Effekt genug", findet er.

Die Erde schwingt auf 136,1 Hertz - das ist etwas tiefer als ein Cis

So etwas lernt man nicht in einem Lockdown. Schon sein Grundschullehrer machte den kleinen Rainer mit autogenem Training vertraut, der meditierte sich auch in der Pubertät auf seiner "Inneren Reise" in rauschhafte Zustände, lernte den Atem zu kontrollieren und Klänge als "heilende Kraft" zu nutzen, was ihm in seinen Bands Rainer von Vielen oder Orange auch als Rapper und Sänger geholfen habe. Er spürte: Da draußen gibt es mehr als die C-Dur-Tonleiter. Alle Kulturen nutzen Töne, um zu heilen, um sich in Trance mit den Kräften des Alls zu verbinden, und so schuf er seinen eigenen Klang-Kosmos: Oriom, wie Orion und Om. Die über Jahre ausgetüftelten Elemente hat er nun im Corona-Jahr neu arrangiert, im Studio neu eingesungen und zu einem Album gebündelt.

Er musste 50 Konzerte absagen, durfte seine Mitmusiker nicht treffen, so wollte er dem Corona-Irrsinn "etwas Heilendes entgegensetzen" - für sich selbst, aber auch für all die einsamen, verängstigten Seelen da draußen: "Gerade in solchen Umbruchsituationen ist Transzendenz wichtig", sagt er, "weil wenn sich außen so viel ändert, kann das Bedürfnis nach Klarheit und Halt nur von innen gestillt werden". Die Oriom-Musik sei sein neues Multitool, ein 77-minütiger Spacetrip in sechs Tracks zu Mars, Venus & Co., den man zu "Sternenmeditation" und "Erdumarmung" ebenso hören könne, wie er sie live alleine spielen und singen könne zum "Slowtrance-Dance" in Clubs oder zur Begleitung von Yoga-Stunden. Darauf ruht seine Hoffnung für 2021, wenn es für normale Band-Auftritte noch schwierig werde (für die Vorhersage muss man kein Astrologe sein). Bei seiner bis 10. Januar laufenden Startnext-Kampagne kann man Hartmann auch für Privat-Konzerte zu Hause buchen oder sich seinen eigenen Lieblingsstern vertonen lassen.

Über die jetzt schon große Nachfrage freut er sich ebenso wie über die Unterstützung von Hans Coustou persönlich. Der 72-Jährige lobt ihn im Geleitwort kometenweitschweifig: "Oriom ist ein sicheres Geländer beim Abstieg in die tiefsten Bereiche der Empfindungen des eigenen Selbst. Sofern einem die Planeten beim Betrachten des Sternenhimmels auch erscheinen mögen, so vertraut erscheinen einem beim Hören dieser Kompositionen die Resonanzen ihrer Bahnen am Himmelsgewölbe." Oriom sei im Flow, im Einklang mit dem Lauf der Dinge, und dieses Gefühl, Teil dieses schwingenden Universums zu sein kennt wohl keiner besser als Hartmann selbst, wenn er stundenlang mit der selben Frequenz im Studio arbeitet: "Danach bin ich in einem anderen Zustand der Klarheit" - und das tatsächlich am ehestens bei 136,1 Hertz. Beim Erdton könne sich sein Kehlkopfgesang am entspanntesten entfalten, ganz in der Mitte seines Klangspektrums: "Ich empfinde diesen Ton sehr nah am Menschen. Erdig und direkt erfahrbar."

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SZ vom 02.01.2021
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