Musik:Der Seher

Philip Bradatsch entdeckt auf seinem neuen Album die Beat-Poesie in deutscher Sprache für sich

Von Christian Jooß-Bernau

Ein Abend am Pariser Platz in Haidhausen. Die Corona-Krise war noch ein paar Tage entfernt. Es regnete. Philip Bradatsch stand in seiner braunen Lederjacke vor den Zeitungskiosk und hatte, auch wenn sein neues Album "Jesus von Haidhausen" heißt, keine Lust auf einen Bummel durchs Viertel. Böen trieben den Regen vor sich her. Feinstes Songwriter-Wetter. Bradatsch wollte ins Warme. Wobei. Ein Blick in die Auslage des Gitarrenladens des Scorpions-Gitarristen Matthias Jabs ist immer drin. Und es ist wohl keine Unterstellung zu behaupten, Bradatsch würde auch bei Hagel und Orkan kurz für eine hübsche Vintage-Gitarre anhalten. Vor zwei Jahren, er war gerade vom Allgäu in die Au gezogen, erschien beim Münchner Trikont-Label sein Album "Ghost On A String", das Ergebnis jahrelangen Fleißes eines durch die kleinen Clubs tourenden Musik-Mannes. Eineinhalb Jahre hatte Bradatsch damals an den Aufnahmen gebastelt, alles selber eingespielt. Da sang er noch englisch.

Die neue Produktion ist ganz anders. Vor einem Jahr hat er angefangen, deutsche Lieder mit ins Programm zu nehmen. Tuscheln im Publikum. "Es ist ja auch nicht verkehrt, mal eine Reaktion zu kriegen, auf das, was man macht", sagt Bradatsch. Er sitzt im Vivo in der Lothringerstraße. Hier schreibt man die Getränkespezialangebote noch mit Kreide auf Tafeln. Bradatsch bleibt beim Bier. Und wirkt, so stilvoll in lässiger Absichtslosigkeit zerzaust, bestens integriert an diesem Ort, dem der Zeitgeist wurscht ist. Legt man sein neues Album auf, ist in der Luft ein Flirren, das sich zum Ton verdichtet. Interferenzen von sich überkreuzenden Funkwellen. Eine E-Gitarre lässt sich Zeit mit dem Zergliedern eines Akkordes. Auftritt des Sängers: "Der schiefe Nebel der Zeit ist der Himmel über allem / die Sirenen der Vergangenheit zeigen wieder ihre Krallen / Stimmen, die aus den schwarzen Tiefen des Ozeans widerhallen / und voralpenländische Schlangenwesen".

Im Rhythmus der Sprache erscheint schemenhaft ein ebenfalls zerzauster Sänger, der 1965 das Album "Bring It All Back Home" veröffentlichte. Man sieht, wie er in Pennebakers Film im Stakkato der Schreibmaschinentasten Text auf Papier hämmert. Hört ihn "It's all right ma (I'm only bleeding)" singen. In "Alte Gebäude" ist der Beat dieser Syntax die Inspiration. Bradatsch schreibt nicht an Dylan entlang, er hat eine Haltung wiederentdeckt. Den Zugriff auf Sprache, wie man ihn bei vielen Beatpoeten der Fünfziger- und Sechzigerjahre findet. Einen rhythmischen Flow der Gedanken, der manchmal an einer Phrase kristallisiert. Seinen ersten deutschen Song, Titellied der neuen Platte, "Jesus von Haidhausen" hat Bradatsch vor zwei Jahren geschrieben. Auf Tour in Finnland, innerhalb einer Viertelstunde auf dem Rücksitz eines Autos.

Philip Bradatsch

Erinnert nicht nur äußerlich an Bob Dylan: Der im Allgäu geborene Songwriter Philip Bradatsch.

(Foto: Sebastian Weidenbach)

Oft, wie bei "Alte Gebäude", überrascht ihn der Text im Nachhinein mit Bedeutung. Der Strudel der Gedanken auf dieser Platte ist kein Chaos, sondern geordnet durch den Beat, angesogen vom Gravitationszentrum einer Idee, die man oft mehr fühlt, als dass man sie in Worte fassen kann. Selbst die straight nach vorne drückende Nummer "(Ich weiß wirklich überhaupt nicht) was du überhaupt noch von mir willst", ist weniger Liebesende, als sprachrhythmisierte Auskleidung eines herrlich schlechten Gefühls, und alle aufgerufenen Figuren sind Verkörperungen einer Laune, die mieser kaum sein könnte.

Der Sound dieser Platte, ihre Texte, sie sind ein Fluss mit Stromschnellen, Strudeln und kurzen ruhigen Abschnitten. Die Dynamik, die über sieben Songs nicht abreißt, ist auch Ergebnis eines Aufnahmeprozesses, der das Gegenteil von Optimierung ist. Ein Hamburger Freund, Dennis Rux, hatte sie in seine Yeah Yeah Yeah Studios eingeladen. Es ging um Kostenreduzierung, darum, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit live einzuspielen. Bradatsch vermied, die Songs vor der Abreise in Perfektion zu proben, was alle außer ihm nervös machte. "Wenn man das mal so versucht, dann Vollgas", sagt er: "Dann geht es entweder voll in die Hose, oder es wird cool." Den Mumm muss man haben, als kleine Band mit wenig Geld, für die jeder Schuss der letzte sein kann. Am ersten Tag in Hamburg hörte sich Produzent Rux an, was Bradatsch, Schlagzeuger Tobias Hieber, Keyboarder Florian Ernszt und der Bassist Wolfgang Dinter ihm anboten. Am nächsten Tag zog er die Nummern ein wenig gerade, und an den nächsten zwei spielten sie ihr Album ein. Kurz vor der Abfahrt machten sie den letzten Take.

Bei "Rundfunkempfänger", der letzten Nummer, entlässt einen ein episches Gitarrensolo von Bradatsch ins All. Es hat einen Raketenantrieb und Töne, die man beim zweiten Nachdenken vielleicht nicht gespielt hätte. Es ist voll Zauber. Mittendrin löste sich beim Einspielen der Gitarrengurt. Bradatsch konnte sich gerade noch setzen. Das Album hat eine Aura des Gemeinsamen, Spontanen: Mit Achtelschlägen auf der Snare steigern sie sich in den Groove von "(Ich weiß wirklich überhaupt nicht)...", bis das ganze Ding ins Rollen kommt. Bemüht man ein letztes Mal Dylan, ist dies die Art, wie der auch auf "Highway 61 Revisited" Musik machte.

Das Haschen nach dem Augenblick ist Gesamtkonzept. Auf dem Cover ein Foto der Band, während der Zeit in Hamburg mit dem Handy nebenbei geschossen. Für den Titel des Albums ging Bradatsch die Liste der Lieder durch und wählte, was ihn als erstes ansprang. Und um die Veredelung des Flüchtigen zu vollenden, wird es diese Platte nur auf Vinyl in physischer Form geben. Und natürlich über die üblichen Downloadkanäle. Die CD ist für Bradatsch nicht mehr das passende Medium für einen Sound, der auf eine Art so physisch ist, dass er am Schönsten über die schwingende Nadel eines Plattenspielers übermittelt wird.

Der Sänger in diesem Retro-Sound für die Welt von morgen, er ist wieder Seher. Singt von Chantal Kiesinger, die auch spät nachts noch die Tür öffnete. Sieht Melinda in der Küche Ketamin schmeißen. Minnesänger, der er ist, lauscht er den Worten seiner Liebsten. Sie sagt: "Die Liebe ist unumgänglich, und unendlich ist der Wahnsinn." Nichts ist verzagt in diesen Liedern. Philip Bradatschs neue Platte ist poetisch, prophetisch und mutig. Schön, in dieser Zeit.

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