Süddeutsche Zeitung

Musik:Tausend Mal komponiert

Seit Jahrzehnten schrieb Winfried Huyer-May eigene Lieder, seine Kinder und Enkel sangen dazu. Als Corona alle isolierte, mussten seine Sänger unten vorm Balkon bleiben. Da entdeckte er ein neues Talent: seinen Computer.

Von Sonja Niesmann

Unten vorm Haus standen die Enkel mit Kuchen. Oben auf dem Balkon standen die Großeltern und zogen den Kuchen mit Seil und Korb hoch. Und weil alles, was ihm widerfährt, was ihn beschäftigt, einen Text, genauer: einen Text für ein Lied in ihm hochspült, ging Winfried Huyer-May sofort eine Zeile durch den Kopf: "Hurra, hurra, die Enkel sind mit Torte da..." Das sei, sagt er, "wie ein Druck, da kann ich mich nicht wehren".

Bloß, wer sollte das Lied singen, fragte sich Huyer-May, dem es als Vater von fünf Kindern und Großvater von 22 Enkelkindern im Alter zwischen zwei Monaten und 22 Jahren bisher an Interpreten seiner Werke und Mitmusizierenden nie gemangelt hatte? Es war das Corona-Jahr 2020, noch kein Impfstoff auf dem Markt. Ältere Menschen sollten ihre Kontakte wegen des Ansteckungsrisikos aufs Allernötigste beschränken, und das nahmen Winfried Huyer-May, Jahrgang 1941, und seine Frau Maria, Jahrgang 1947, sehr ernst, wie die Torte am Seil zeigt. "Und da hab' ich entdeckt, dass der Computer sprechen kann." Er tippte den Text ein, die Computerstimme sprachsang/sangsprach, er bastelte Orchester und Chor dazu - fertig war der Song. Der erste dieser Art, inzwischen hat er gut 300 solcher Computersprechlieder auf seiner Webseite allesopa.de hochgeladen. "Insgesamt schwirren aber 1000 Lieder von mir rum."

Um das zu erklären, holt der pensionierte Jurist, zwei Brillen am Bandl um den Hals baumelnd, den weißen Haarkranz frisch friseurgestutzt, weit aus beim Gespräch in der Wohnung im Pfarrhaus von St. Konrad in Neuaubing, im ersten Stock über dem Pfarrbüro. "Unsere himmlische Wohnung", nennt seine Frau sie. Winfried Huyer-May stammt aus einer musikalischen Familie, der Großvater Musiker, der Vater Musiklehrer in Tegernsee, wo die Familie sich nach der Flucht aus dem Sudetenland niederließ. Natürlich lernte auch der junge Winfried ein Instrument, Klavier. Als 16-Jähriger machte er Lieder für seine zehn Jahre jüngere Schwester, zwei fallen ihm auf Anhieb noch ein: "Meine Lassie heißt Bimba" und "Wenn ich groß bin, will ich eine Lady sein". Und er gründete einen Chor mit Mitschülern, die "Tegernsee Spirituals", in einer Zeit, in der Gospelchöre noch längst nicht üblich waren in Deutschland. Der Chor überdauerte die gemeinsame Zeit im Gymnasium noch ziemlich lange, er hatte Auftritte beim BR, beim US-Radiosender AFN, in einer Fernsehshow von Peter Frankenfeld, und sogar einen in der Kathedrale von Chartres, erzählt Huyer-May mit Stolz. Noch heute treffen sich die alten Herren jedes Jahr - "allerdings singen wir nicht mehr", schmunzelt Huyer-May.

Früher nahmen sie CDs auf: der Papa am Keyboard, die Jüngsten mit Küchengeräten

Dennoch wurde ihm klar: "Ein Spitzenmusiker wird aus mir nicht", das letzte Quäntchen Talent fehlte. Er entschied sich also für ein Jura-Studium und war sein ganzes Berufsleben lang als Arbeitsrechtler in einem großen Unternehmen der Elektroindustrie tätig, zunächst in Berlin, dann in München. Die Noten aber haben sich hartnäckig behauptet neben den Paragrafen. Schon als Mitglied der katholischen Hochschulgemeinde textete er Kirchenlieder wie "Pfarrer, mach die Kirche dein/nicht zu einem Altersheim". Als seine Kinder eins nach dem anderen auf der Welt waren, textete und komponierte er für sie "kunterbunte Kinderlieder". Ein Produzent hat sogar mehrere CDs mit "Wini's Rasselbande" auf den Markt gebracht, der Papa am Keyboard, die älteste Tochter sang, die jüngeren Geschwister rasselten mit Küchengeräten. Und immer, wenn eines seiner Kinder 18 wurde, schrieb er einen Wahlsong, um sie zu motivieren, ihr demokratisches Recht auch wahrzunehmen. "Ich hab einen ganzen Ordner mit schönen Dankesbriefen dafür, von Kohl, von Merkel", erzählt er.

Zwischendurch hat er sich schon mal gefragt, ob er mit seinen musikalischen Kenntnissen, seinen Erfahrungen als Chorleiter und -manager, seinen Kontakten nicht in der Musikbranche als Jurist arbeiten sollte. Und sich selbst beschieden: "Da bin ich nicht der Typ dafür. Da muss man ein eiskalter Geschäftsmann sein."

Winfried Huyer-May blieb also bei dem, was er mag, was er kann. Zumal er die Musik für kleine Kinder heutzutage "zu schnell, zu wild, zu verpoppt" findet. Er hat versucht, einige seiner Enkel fürs Langsamere, fürs Gemächliche zu begeistern, für "Fuchs, du hast die Gans gestohlen" oder "Hänschen klein". Ohne großen Erfolg - "da waren die gleich weg".

Und dann kam Corona, kamen die Quarantäne-Sprechsongs. "Maske - wie herum?" "Wir sind der Virenschreck". "Maskenpflicht im Unterricht". "Menschen an der Leine". Und seine Enkel mussten ja auch rechnen lernen, später fragten sie "Opa, kannst du Latein?" Weil ja wie gesagt alles, was ihn beschäftigt, in Lieder mündet, finden sich auf "allesopa.de" auch Kapitel zum Einmaleins und zu Latein. Die A-Deklination zum Beispiel. Winfried Huyer-May, von schalkhafter Fantasie, erklärt sie anhand des Wortes Paprika. Die Computerstimme freilich wirkt, als hätte die Sprechende ein leichtes Schlafmittel genommen. Ja, nun, räumt Huyer-May ein, "der Computer kann es einfach nicht besser", er gehe bei Aussprache und Betonung eben eigene Wege. Umso wichtiger sei bei der musikalischen Begleitung ein Verständnis von Harmonielehre.

Ist das nicht fade Konservenmusik? "Ja, ich schmeiß es auch gleich wieder weg."

Harmonielehre. Das ist der Moment in dem schon fast zwei Stunden dauernden Gespräch, als der 81-Jährige doch mal sehr freundlich fragen muss: "Verstehen Sie was von Musik?" Nun, ehrlich gesagt... Na dann, höchste Zeit, es anschaulich zu machen. Zu wechseln vom Wohnzimmertisch in sein Arbeitsstübchen, in dem er jeden Tag Stunden - "viele Stunden", wie seine Frau der Besucherin zutuschelt - verbringt. Es lässt sich mit dem Wort überbordend beschreiben. Ein Keyboard, nein, eine "Workstation". Laptops, Bildschirme, ein Umwandler. An einer Tastatur pappt ein Papierstreifen, der ihn ans regelmäßige Speichern erinnert - "weil hier stürzt alles oft ab". Lautsprecher. Kabelknäuel in Schwarz, Grau, Lila, Gelb. Eingekesselt ist das Tonstudio von einsturzgefährdet wirkenden Regalen mit Büchern, Ordnern, selbstgebastelten Puppen und allerlei anderem Schnickschnack.

Huyer-May startet seinen "Music Maker". Wählt einen Bass, in C-Dur. Vier Takte, "die kopieren wir jetzt noch dreimal, dann mach' ma ein Schlagzeug dazu." Schon wippt er leicht mit auf seinem Stuhl zum Computersound. Eine Gitarre dazu, "schön". "Aber jetzt muss eine andere Harmonie kommen, sonst wird's langweilig." Und eine Stimme, ein Hip-Hopper am besten. "Sehen Sie?", strahlt er, "auch Sie könnten mit so einem Programm alles Mögliche machen." Wohl wahr, aber: Ist das nicht einfach fade Konservenmusik? Er stutzt Sekunden, und stimmt zu: "Ja, das hier schon. Ich schmeiß es auch gleich wieder weg". Und klickt sofort seine jüngsten Kompositionen an. Betitelt mit Städtenamen oder Vornamen, ohne Text, also eigentlich ganz untypisch für ihn. Aber eine neue Herausforderung.

"Extreme Sachen", verrät er dann noch, mache er im Elternhaus seiner Frau, einem kleinen Bauernhaus im Unterfränkischen, das die ganze Familie liebt. Da hat er ein Gießkannen-Cello mit drei Saiten, einen siebensaitigen Schubkarren-Bass und allerlei "Klapparaturen" - Autofedern, Schraubenschlüssel, Tiegel und Töpfe. "Das klingt natürlich nicht frohlockend", sagt er und lächelt. "Das klingt sogar ziemlich schauerlich bisher."

Er aber klingt sehr zufrieden.

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