Süddeutsche Zeitung

Multitalent Michael Sailer:Der Alleskünstler

Michael Sailer ist Schriftsteller, Autor, Musiker, Moderator und Schauspieler. Und wenn dem Allrounder mal das Geld ausgeht, putzt er Klos.

Thomas Becker

Eine Theorie besagt: Der Mensch erneuert alle sieben Jahre seine Zellen. Es soll Menschen geben, bei denen das schneller geht: "Bei mir wird ständig alles erneuert. Von meinem Bekanntenkreis habe ich vor fünf Jahren niemanden gekannt, zehn Jahre vorher gab es wieder ganz andere Leute. Ich halte an nix fest. So sehr sich immer alles ändert, so wenig mag ich, wenn sich was ändert. Paradox, heißt aber nicht immer, dass ich mich ändere. Grundmerkmal meines Lebens: Ich lasse mich treiben, plane nichts, hab' mir nie vorgestellt, wie die Zukunft aussieht. Weil ich überzeugt bin, dass es die Zukunft nicht gibt. Ich schaue einfach, was daher kommt." Willkommen im Kosmos des Michi Sailer!

Der Mann mit den flinken Zellen ist in Pasing geboren, in Giesing aufgewachsen und im Glockenbachviertel Gitarrist geworden. Das war's auch schon in Sachen geordnete Lebensbahn. Danach wurde es wild und bunt. Was der 48-Jährige so macht? Schriftsteller, Lesebühnenautor, Musiker, Fotograf, Moderator, Übersetzer, Theaterschauspieler. Früher hieß das Universalgenie. Sailer sagt: "Ich mach' halt Zeugl." Geht's genauer? "Was mir gerade einfällt und Spaß macht. Hab' ich als Kind verinnerlicht, dass darin das Leben besteht. Schauen, was einem einfällt und das dann machen. Eine angenehme Art zu leben." Im Lokal "Vereinsheim" kennt man ihn als Moderator des sonntäglichen Leseabends "Schwabinger Schaumschläger".

Und das kam so: Vor vier Jahren schleppte ihn Kumpel Marc Liebscher raus aus einem Liebeskummer, rein ins Vereinsheim, zum Kabarett. "Spinnst! Nix hass' ich mehr als Kabarett!", schimpfte Sailer. Der "Scheibenwischer" war ihm "die langweiligste Veranstaltung aller Zeiten", damit wollte er nichts zu tun haben. "Jetzt weiß ich, dass es eine ganz andere Art von Kabarett gibt. Die kannte ich vorher gar nicht." Sailer erlebte beim Montags-Brettl "Blickpunkt Spot" Marco Tschirpke und war begeistert. "Ich wusste sofort, dass ich nächste Woche wieder da bin." Nach ein paar Wochen fragte ihn Vereinsheim-Chef Till Hofmann: "Warum machst'n du eigentlich nicht mal was?" Darauf Sailer: "Was denn? Ich kann ja nix. Ich kann a G'schicht vorlesen." Hofmann: "Ja, dann liest a G'schicht vor." Ein herrlicher Dialog, der in Sailers Karriere als "Schwabinger Schaumschläger" mündete, die von Jaromir Konecny und Moses Wolf erfundene Lesebühne. "Bei anderen Lesungen habe ich mich immer völlig fehl am Platz gefühlt, habe dieses Poetry-Slam-Getue nie verstanden", erzählt Sailer, "jetzt ist es ein ganz großer Spaß." In vier Jahren hat er nur zwei Sonntage verpasst.

Als Arbeit empfindet der bekennende Schwabinger solche Auftritte nicht: "Ich sehe all das nicht als Jobs. Ich muss letztlich von nichts davon wirklich leben. Ich brauche ganz wenig Geld. 90 Prozent von dem, was ich mache, mache ich, weil ich Lust habe. Wenn man künstlerische Sachen machen will, muss man Geld ausblenden, ein Programm der Bedürfnislosigkeit einstudieren und sich drauf verlassen, dass es schon irgendwo herkommt. Ich habe keine Hemmungen: Wenn's Geld ausgeht, arbeite ich gern bei der Müllabfuhr. Ich habe schon Klos geputzt, nachts Lebensmittel ausgefahren, war Garderobier im Tanzlokal Größenwahn, habe mit Drogen gedealt, war Pförtner. Aber - jetzt mal ganz groß rausgehängt - wenn man Künstler ist, weiß man, dass das nur eine Zeit lang so ist und auch wieder was anderes kommt. Das Schlimmste am normalen Berufsleben ist ja, dass ein normaler Mensch immer weiß, dass es nie aufhört."

Sailers Berufsleben fing mit Rock'n'Roll an - und der "einzigen Vorabend-Serie, die nie wiederholt wird, weil sie so schlecht war". Einer der Protagonisten: Michi Sailer als Bassist einer Nachwuchsband, mit wenig Text: "Ich war beim Dreh meistens so betrunken, dass sie meine Texte radikal zusammengestrichen haben." Im Oktober 1985 startete "Blam!" für 13 Folgen, hinterließ kaum Spuren, wurde aber immerhin Romanvorlage: "Die Verrückten stehen in der Sonne" ist Sailers erster Roman und "der einzige, der auch erschienen ist", sagt der Autor. Geschrieben 1991, Literaturstipendium 1998, nie einen Verlag gefunden, "bis mein Verleger, der den "Schwabinger Krawall" (Sailers Kolumnensammlung aus der taz, Anm. d. Red.) macht, gesagt hat: Okay, dann druck' ich's halt." Fast 20 Jahre später. Sailer zuckt mit den Schultern und sagt: "Mei, so ist der Betrieb." Und schon sind wir bei der Literatur, einem wichtigen Element im Leben des Michi S.

Als sich das Musizieren in diversen Bands zwischen Rock, Punk und Pop als zu brotlos erwies, sah sich Sailer gezwungen, "richtig zu arbeiten": in der Bahnhofsbuchhandlung, unten im Lager. Sailer erzählt: "Bücher auspacken, liefern, bestellen, sich über die beschissenen Bücher ärgern, die erscheinen. Der Großteil ist absolut der letzte Dreck. Man kann frühzeitig lernen, sich damit abzufinden." Eineinhalb Jahre hielt er es im Keller aus, bis ihn eine Kollegin zum Studium schickte: "Schau dich mal im Spiegel an! Wenn du das noch ein Jahr machst, bist du tot."

Sailer wollte lieber leben und fing mit 29 an zu studieren, Germanistik und Geschichte, zuerst Lehramt, nach einer Woche Praktikum doch lieber Magister. Nebenbei war er Musikjournalist, hat irgendwann nur noch am Wochenende studiert, war viel unterwegs für Interviews, erst fürs WOM-Journal, später für den Musikexpress und viele andere Magazine von Focus bis Rolling Stone. "Cool, aber auf die Dauer anstrengend", erzählt er, "irgendwann hatte ich die Nase voll vom Fliegen, die Musiker haben gelangweilt, immer denselben Mist geredet. Ich hatte keinen Bock mehr, schlechte Bands zu fördern, während meine eigene niemand interessiert hat." Nach gut 500 Interviews, mit U2, Blondie, Iggy Pop und einer Kuba-Tour mit den Manic Street Preachers fand Sailer, er habe "alles erlebt, was man so erleben kann" - und hörte auf. "Ich habe gemerkt, dass ich andere Sachen schreiben mag: Geschichten. Habe ich schon mit 14 gemacht, so richtig mit Plan und Stilvorlagen. Heute finde ich es langweilig, wenn das zweite Buch des Autors wie das erste klingt. Jede Geschichte braucht eine eigene Sprache, einen eigenen Erzählstil. Ich habe bestimmt hundert Kurzgeschichten geschrieben und fünf Romane angefangen und wieder weggeschmissen, bevor ich gemerkt hab: ,So, jetzt find' ich aber erst mal raus, wie das geht.' Nachdem der erste Roman fertig war, hätte ich sofort noch drei solche schreiben können. Aber das langweilt, ist Zeitverschwendung."

Lange und fesselnd kann Sailer in seiner tiefenentspannten Art von Vladimir Nabokov und Jörg Fauser schwärmen, Goethe und Thomas Mann verreißen. Die "Schaumschläger" im Vereinsheim vermitteln dagegen noch weitgehend unbekannte Literatur. Überhaupt: dieses Vereinsheim. Ursprung so vieler kreativer Ideen. Auch die "Schwabinger Bürgerversammlung" ist dort zu Hause. Sailer sagt: "Ein ganz schwieriges Thema, weil ich's selbst nicht versteh'." Die üblichen Verdächtigen - Till Hofmann, Sven Kemmler, Hannes Ringlstetter und Sailer - saßen zusammen und meinten: "Wir müssten mal eine Bürgerversammlung machen." Allgemeine Zustimmung. Zwei Wochen später wurde es konkreter: "Wir müssen politisch arbeiten. Politik heißt: absurde Forderungen aufstellen, um seine Lebensumwelt zu gestalten." Sailer erkennt Parallelen zum Situationismus aus dem Frankreich der frühen sechziger Jahre. "Guy Debord sagte: ,Revolution ist nötig. Man muss das Leben und die Welt ändern, aber nicht gewaltsam umstürzen, sondern öffentliche Räume und Debatten durch Diskussionen vereinnahmen und ad absurdum führen.'" Sailer sieht in der Bürgerversammlung eine Ableitung aus dem Dadaismus: "Wir machen was anderes daraus, um zu zeigen, was es eigentlich ist. Situationismus heißt: Diese Welt gibt's nicht, sondern es gibt die Welt, in der wir leben - und die muss man gestalten, füllen mit möglichst viel Unfug, Spaß und sinnvollen Dingen. In jedem Scherz steckt mehr Ernst als in einer Regierungserklärung." Beispiel: Bei der Fußball-EM 2008 veranstaltete die Truppe im Hotel der Nationalmannschaft gefakte Interviews über angeblich verletzte Spieler. Sailer sagt: "Wenn man erst mal versucht, eine eigene Realität zu machen, merkt man, dass die andere Realität überhaupt keinen Bestand hat. Die wehrt sich noch nicht mal, lässt sich einfach abschaffen."

So kann man die vatikanische Mannschaft zur WM einladen und auch einfach hergehen und eine Freie Uni Schwabing gründen, bei der jedermann sowohl Dozent als auch Student sein kann. Sailer meint: "Was an offiziellen Unis in Deutschland abläuft, ist eine Farce. Da geht's darum, billige Lohnsklaven für die Industrie zu züchten. Das hat mit Akademismus nichts zu tun." Aber das auch nur eins von ungefähr 700 Themen, über das man mit diesem Michi Sailer reden könnte - wenn denn die eigenen Zellen schnell genug erneuert würden.

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Quelle:
SZ vom 08.07.2011/benK
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