Mündige Patienten:"Der Scharfrichter sitzt im eigenen Kopf"

Die Münchner Angst-Selbsthilfe besteht seit 25 Jahren - das Modell hat Schule gemacht. Andere Gruppen beschäftigen sich mit Spielsucht, Stottern oder krankhaftem Aufschieben

Von Eva Casper

Wenn Dieter Hofmann über seine Angst spricht, dann verwendet der 57-Jährige Wörter wie Lähmung, zerbröseln, Vernichtung. Eigentlich weiß er, dass sein Leben nicht existenziell bedroht ist - es nie war, auch wenn er in seinem früheren Job als Stationsleiter in einem Altenheim unter großem Stress stand. "Aber der Scharfrichter sitzt immer im eigenen Kopf", sagt Hofmann, der in Wahrheit anders heißt. Diesen Scharfrichter zu vertreiben, damit kämpft er schon seit mehr als 15 Jahren. Neben Klinikaufenthalten und Therapien geht er seit zwei Jahren auch regelmäßig in eine Gruppe der Münchner Angst-Selbsthilfe (MASH). Dort lernte er, "sich selbst auf die Spur zu kommen". Und, dass er nicht alleine ist mit seinen Problemen. Mittlerweile leitet er sogar eine Gruppe und unterstützt die Online-Beratung des Vereins.

Gerhard Schick hat den Verein vor 25 Jahren gegründet. Er litt selbst unter starken Panikattacken, Phobien und Depressionen. Nach vielen erfolglosen Therapien suchte er schließlich über eine Kleinanzeige Kontakt zu anderen Betroffenen. Vom ersten Treffen im eigenen Wohnzimmer ist MASH inzwischen zu einem bundesweit vernetzten Verein geworden, der in München 15 Selbsthilfegruppen mit knapp 180 Teilnehmern anbietet, das eigene Magazin DAZ herausgibt und eng mit Ärzten und Kliniken zusammenarbeitet, um das Bewusstsein für Angststörungen zu schärfen. In zahlreichen Städten wurde das Münchner Modell bereits übernommen. Seit 2010 führt der Verein wissenschaftliche Evaluationen seiner Selbsthilfegruppen durch. "Wir wollen damit deutlich machen, dass unsere Arbeit den Betroffenen wirklich hilft", so Sprecherin Tine Vogeltanz. Der Verein wird von den Krankenkassen und der Stadt finanziell gefördert, ist aber nach wie vor auch auf private Spenden angewiesen.

Weltweit sind Angststörungen die häufigste psychische Erkrankung. In Deutschland sind nach Studien des Robert-Koch-Instituts knapp 15 Prozent der Bundesbürger betroffen. Die verschiedenen Ausprägungen einer Angststörung reichen von plötzlich auftretenden Panikattacken über ein permanentes Sich-Sorgen-machen bis hin zu Phobien. Die Krankheit betreffe alle Altersgruppen und alle Bildungsschichten, so Vogeltanz. "Egal, ob Manager, Erzieherin oder Student." Die meisten ihrer Teilnehmer litten unter sozialer Phobie, sagt Vogeltanz. Sie meiden soziale Kontakte aus Angst vor Zurückweisung und Demütigung. Häufig gehen Angststörungen mit weiteren psychischen Erkrankungen einher, beispielsweise Depressionen. MASH bietet mittlerweile eine eigene Gruppe für Menschen mit dieser Doppelerkrankung an. Im nächsten Jahr folgt aufgrund der Nachfrage eine zweite. Prinzipiell seien Angststörungen gut therapierbar, erklärt Vogeltanz. Wichtig sei, so früh wie möglich in den Krankheitsprozess einzugreifen. Der Verein bemüht sich daher auch noch, mehr junge Menschen anzusprechen. Für viele von ihnen hätten Selbsthilfegruppen noch ein sehr angestaubtes Image.

Das größte Problem seien aber nach wie vor die langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz, sagt Vogeltanz. Denn der Verein sieht seine Arbeit nicht als Ersatz für eine ärztlichen Therapie, sondern als Ergänzung. "Wir empfehlen vor allem die Form der Verhaltenstherapie", so Vogeltanz. Denn das Schwierigste für die Betroffenen sei, die alten Verhaltensmuster, die zu der Angststörung geführt haben, zu ändern. Das bestätigt auch Dieter Hofmann: "Man spiegelt sich in den anderen Gruppenteilnehmern, man merkt, was man an sich selbst noch ändern muss. Aber das dann im Alltag wirklich umzusetzen - das ist das Schwierigste."

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