Münchner Tauschnetze:Eine Welt ohne Geld

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Alternative Wirtschaftssysteme an der Isar boomen: Von Boogie-Woogie bis zur Grabrede kann man in München fast alles tauschen - statt in Euro wird in Talenten verrechnet.

Anna Fischhaber

Wenn Klaus Bickert über den Kapitalismus redet, gerät er in Rage. "Die Wirtschaft dient nicht mehr den Menschen, für die sie erfunden wurde, sondern bloß noch den Privatinteressen." Seit über zehn Jahren bestreitet der Astrophysiker einen Großteil seines Lebens deshalb übers Tauschen. An freien Tagen hilft der 55-Jährige mit dem dunklen Vollbart beim Entrümpeln oder repariert Computer. Dafür bekommt er kostenlos Gemüse vom Biohof oder gönnt sich eine Fußpflege.

Klaus Bickert, 55, tauscht seit zehn Jahren aktiv. (Foto: Foto: Anna Fischhaber)

Als Bickert einen neuen Job suchte, hat jemand aus seinem Tauschkreis das Bewerbungsbild geschossen, ein anderer - im echten Leben Personaler - übte mit ihm fürs Bewerbungsgespräch. Gekostet hat das Bickert nur ein paar Talente. Statt mit Geld hat er die Hilfe mit einer alternativen Zeit-Währung verrechnet: Eine Stunde entspricht im Lets-Tauschnetz 20 Talenten - egal ob nun geputzt oder gecoacht wird.

Lets bedeutet so viel wie Local Exchange Time System und ist eine regionale Tauschorganisation. Weltweit gibt es rund 15.000 solcher Vereine, in denen Arbeitszeit, Arbeitsmittel und Sachen getauscht, verliehen und verschenkt werden. Allein das Münchner Lets-Tauschnetz veranstaltet jeden Monat sieben Stadtteiltreffen und vier Informationsabende.

In der leerstehenden Kantine eines Seniorenheims in Sendling haben sich an diesem Abend zehn Teilnehmer, die meisten um die 50, eingefunden. Stadtteilsprecherin Hermine ist gerade aus dem Urlaub zurückgekommen - die Übernachtung in Wangen hat sie natürlich mit Talenten bezahlt. Reinhard bietet Botengänge und Boogie-Woogie an. "Aber nur Basiskenntnisse", fügt der sportlich wirkende Rentner etwas schüchtern hinzu. Luciana, die einzig jüngere Teilnehmerin, gibt ihr neues Zauberstück mit der Spinne zum Besten. Dieter, der eigentlich gekommen ist, um endlich eine Putzhilfe zu finden, ist begeistert: "Das wäre doch was für den Geburtstag meiner Enkelin!" Klaus Bickert wiederum benötigt Dieters Buchhalterkenntnisse.

Nachhaltigkeit und Nachbarschaftsbeziehungen

Angefangen hat alles in Kanada. Anfang der achtziger Jahre führte Michael Linton dort die erste Tauschzentrale ein, damit nicht mehr nur jeweils zwei Personen, sondern alle mit allen tauschen konnten. Die Mitglieder kamen so an Dienstleistungen und Güter, die viele in der Landeswährung wegen der hohen Arbeitslosigkeit nicht mehr bezahlen konnten. In Australien entwickelten sich bald größere Systeme mit bis zu 5000 Teilnehmern, in Neuseeland kann man heute mit "Green Dollars" - so heißt die dortige Tauschwährung - sogar Steuern bezahlen, die aus Tauschgeschäften entstehen.

In Deutschland schossen Anfang der neunziger Jahre die Tauschringe wie Pilze aus dem Boden, an die 350 verschiedenen Systeme gibt es heute. Als Lothar Mayer die Idee in München vorstellte, nahmen zunächst vor allem Akademiker teil. Inzwischen sind es hauptsächlich Arbeitslose und Rentner. Neben wirtschaftlichen Motiven stehen Nachhaltigkeit und gute Nachbarschaftsbeziehungen im Vordergrund. "Als ich mal wieder das Wochenende vor dem Fernseher verbrachte, dachte ich: Das kann doch nicht alles sein", schildert Bickert seine Beweggründe.

Heute, zehn Jahre später, macht ihm das Tauschen immer noch viel Spaß - mit Hilfe seines Tauschhefts "verletst" er auch an diesem Abend wieder so manche Fähigkeit. Nebenan, beim Bazar, wird beim Austausch von Marmelade und Büchern heftig gefeilscht - nur das am Ende Talente statt Euro den Besitzer wechseln. "Hier bekommt man Dinge, die gibt es Handel gar nicht mehr", sagt Bickert und erzählt stolz, wie er neulich die Teilnahme an einer Philharmonie-Probe ertauscht habe. Das Tauschgeschäft an der Isar blüht, von der Grabrede bis zur Auszeit im Kloster kann man fast alles tauschen.

Zeitbank als Altersvorsorge

Im österreichischen Vorarlberg betreiben Tauschvereine gemeinsam mit den Kommunen sogar eine Zeitbank. Dort muss man sein Zeitguthaben nicht sofort wieder eintauschen, sondern kann es als Altersvorsorge ansparen. Die Idee dazu stammt wiederum aus München: Martin Schmidt-Bredow hat den auf das Tauschsystem basierenden Generationenvertrag erfunden, am Ackermannbogen hat er gerade das erste Münchner Pilotprojekt gestartet. Demnächst will er auch mit dem Regio-Verein kooperieren. Der wiederum arbeitet gerade an einer eigenen E-Card für seine lokale Währung.

Garantien, dass solche Systeme funktionieren, gibt es kaum. "Aber die gibt es für die Rente ja auch nicht mehr", sagt Bickert. Lets habe vor allem mit Nomaden zu kämpfen, die ihr Konto überziehen und dann zum nächsten Tauschkreis wechseln. Manchmal überschätzten sich die Teilnehmer aber auch bloß: "Wir hatten mal einen Mann, der dachte er kann alles. Und als er dann wirklich eine Waschmaschine anschließen sollte, hat er die ganze Wohnung unter Wasser gesetzt", erzählt Bickert. "Qualitätskontrollen sind beim Tauschen leider erst im Nachhinein möglich."

Oft lernen die Teilnehmer bei Lets aber erst, welche verborgenen Talente sie besitzen. Bickert hat das Tauschen auch beruflich zu einer neuen Perspektive verholfen. Weil den Astrophysiker, trotz Hilfe vom Lets-Personaler, keine Firma einstellen wollte, hat er sich inzwischen als Hard- und Software-Entwickler selbständig gemacht. Vom Firmenlogo bis zur juristischen Beratung hat ihm der Tauschkreis geholfen - damit neben den Talenten auch wieder ein paar Euro in die Kasse kommen.

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