Münchner Seiten:Die Propaganda der Sieger

Lesezeit: 3 min

Günther Gerstenberg hat eines der interessantesten Bücher über die Räterepubliken und ihr Scheitern geschrieben

Von Wolfgang Görl

Zum hundertsten Jahrestag der Revolution 1918 und der Münchner Räterepubliken 1919 sind etliche Publikationen erschienen, teils lesenswerte, teils solche, deren Lektüre man sich sparen kann. Eines der interessantesten Bücher zum Thema hat der Münchner Maler und Autor Günther Gerstenberg geschrieben. "Räte in München" lautet der Titel des im Verlag Edition AV erschienenen Werks. Wie der Untertitel "Anmerkungen zum Umsturz und zu den Räterepubliken 1918/19" verrät, handelt es sich nicht um eine chronologisch angeordnete, historische Erzählung, sondern Gerstenberg wirft Schlaglichter auf relevante Themen, die zusammengenommen ein erhellendes Bild der damaligen Ereignisse liefern. Vor allem aber räumt er auf mit den Propagandalügen, welche die damaligen Sieger, die nationalistische Rechte, seinerzeit verbreitet haben und die bis heute nachwirken. Diesen Legenden zufolge hätte ein Haufen bolschewistischer, vaterlandsloser und zudem jüdischer Literaten und anderer Nichtsnutze die Macht an sich gerissen und die arglosen bayerischen und Münchner Bürger tyrannisiert. Dazu schreibt Gerstenberg im Vorwort: "Immer noch droht der Popanz der 'kommunistischen Rätediktatur'. Und es sind immer noch die Freikorps, die das arme Baiern vor der roten Flut retten. Tatsächlich plündern und morden die Freikorps. Sie werden zu Keimzellen der rechtsnationalistischen und protofaschistischen Gruppen, die stramm in ein Tausendjähriges Reich marschieren. Dass eine SPD-Regierung die Freikorps rief, ändert daran nichts."

Der Propaganda, dem Kampf um die Deutungshoheit widmet Gerstenberg ein eigenes Kapitel, das Thema aber taucht auch in anderen Zusammenhängen immer wieder auf. Wer die heutigen Hetz- und Hasstiraden im Internet kennt, kann sich in etwa eine Vorstellung machen, mit welchen Methoden die bürgerliche und nationalistische Rechte ihre Kampagnen gegen die Revolutionäre betrieb. Nur waren es damals keine digitalen Filterblasen, in denen das Gebräu aus Lügen und Schauermärchen hergestellt wurde, sondern die Redaktionen von Zeitungen und Zeitschriften, die als seriös galten. Vorrangiges Ziel in den ersten Wochen nach dem Sturz der Wittelsbacher Herrschaft war Ministerpräsident Kurt Eisner, den die bürgerliche Presse nicht erwähnen konnte, ohne ihn umgehend als "Volksverräter", als "Galizier namens ,Salomon Kosmanowsky'" oder als "Nichtbayern" verächtlich zu machen, um ihm dann noch zu unterstellen, er wolle eine Rätediktatur nach russischem Vorbild errichten. Der sozialdemokratische Vorwärts gab sich besondere Mühe, Eisner, den ehemaligen Parteigenossen, zu verunglimpfen, in dem er ihn als "eingewanderten Berliner Literaten" schilderte, der in einer "Welt des holden Wahnsinns" lebe. Selbst nach der Ermordung Eisners entblödete sich der Vorwärts nicht, die Todesmeldung mit Schauergeschichten vom "wilden Terror" seitens der Arbeiter- und Soldatenräte zu garnieren. Generell konstatiert Gerstenberg: "Der rechten Diskursdominanz, den Plakaten, Flugblättern und Zeitungen der 'Demokraten', Monarchisten und völkischen Antisemiten können die Linken fast nichts entgegensetzen."

Gerstenberg gelingt es, den Propagandakrieg, in dem die Linke eindeutig die schwächeren Waffen hatte, so ins damalige Geschehen einzubetten, dass der Leser einen guten Überblick über die Ereignisse von der Revolution bis zu deren blutiger Niederschlagung im Mai 1919 erhält. Deutlich wird dabei auch, wie zerstritten die revolutionären Kräfte waren, was ihren Untergang letztlich beschleunigt hat. Der Terror der Freikorps und Reichswehrtruppen, dem viele hundert Revolutionäre, aber auch Unbeteiligte zum Opfer fielen, wurde mit frei erfunden Schauergeschichten von Massenmorden, Vergewaltigungen und "russischem Terror der asiatischen Wüstensöhne" propagandistisch vorbereitet und vorab gerechtfertigt - ein grausames Beispiel der Macht von Fake News.

Nicht minder interessant ist das Kapitel über die Rolle der katholischen Kirche in den Revolutionsmonaten. Erzbischof Michael Faulhaber und der Apostolische Nuntius Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII., gehörten zu den erbittertsten Gegnern der Revolution. In einem Bericht an den Vatikan schreibt Pacelli, Eisner sei "Atheist, Radikalsozialist, unversöhnlicher Propagandist, Busenfreund russischer Nihilisten und noch dazu galizischer Jude". Nachdem der bayerische Ministerrat im Dezember 1918 beschlossen hatte, die kirchliche Schulaufsicht abzuschaffen, geißelte Faulhaber das Kabinett Eisner als eine "Regierung von Jehovas Zorn". Und als im Januar der Religionsunterricht als Pflichtfach abgeschafft wurde, schrieb Faulhaber in einem Hirtenbrief, die Verordnung wiege vor dem Richterstuhl Gottes schwerer "als der Blutbefehl des Herodes". Gerstenberg, der seine Sympathie für die Revolutionäre nicht verbirgt, verschweigt dennoch nicht, dass die Angst, in der Faulhaber während der Revolutionszeit lebte, nicht grundlos war. "Rote Matrosen singen nächtens vor dem Erzbischöflichen Palais spöttisch Marienlieder. Tagsüber drohen Rätesympathisanten mit geballter Faust zu den Fenstern hoch, wenn der Erzbischof ängstlich eine der dunklen Portieren ein wenig zur Seite schiebt und auf die Straße hinunterlugt."

Gerstenberg richtet in seinem Buch den Blick auf Themen, die häufig übersehen werden: Auf die wichtige und meist unterschätzte Rolle der Frauen in den politischen Kämpfen der damaligen Zeit; auf den Humor, der in prächtiger Blüte stand; auf die Praxis der Psychiatrie, die Revolutionäre als Psychopathen, Geisteskranke oder schlichtweg Verrückte zu klassifizieren und deren politisches Programm somit zu einem pathologischen Hirngespinst zu erklären. Am Ende stellt Gerstenberg dann die Frage, warum die Revolution in Bayern letztlich scheiterte. Ein Grund dafür sei das Ausbleiben sozialer Umwälzungen gewesen: "Mit Sicherheit kann man sagen, dass eine politische Revolution dann scheitert, wenn sie nicht mit einer sozialen Revolution verbunden ist." Gerstenberg denkt dabei an die Enteignung wirtschaftlicher Eliten und an die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel. Aber es waren nicht nur die eigenen Versäumnisse, die zur Niederlage der Revolutionäre geführt haben: "Die Rätebewegung hatte keine Chance, da die umfassenden Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit, die die Gegenrevolutionäre besaßen, in München nur mangelhaft, außerhalb München überhaupt nicht unterbunden werden konnten."

Günther Gerstenberg: Räte in München. Anmerkungen zum Umsturz und zu den Räterepubliken 1918/19. Verlag Edition AV, 217 Seiten, 19,90 Euro

© SZ vom 25.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: