Süddeutsche Zeitung

Double-Feier:Die Größen des Münchner Rathausbalkons

Auf dem Rathausbalkon stehen obligatorisch die Rekordmeister im Mittelpunkt. Doch wer den Blick ein wenig schweifen lässt, kann noch ganz andere Größen entdecken.

Von Wolfgang Görl

Klar, bei der Meisterfeier auf dem Rathausbalkon stehen Spieler, Trainer, Vereinspräsidenten und vielleicht noch ein paar Wichtigtuer im Vordergrund. Die Fans auf dem Marienplatz schauen auf Lewandowski, Hummels oder Niko Kovac, das architektonische Drumherum führt da eher ein Schattendasein. Dabei wären da interessante Persönlichkeiten zu bewundern, beispielsweise Herzog Siegmund. Dessen steinernes Abbild, ein Werk des Bildhauers Theodor von Gosen, steht in einer der Nischen über dem Balkon, er blickt hinab auf das wuselige Treiben unter ihm, und zwar so voller Ernst, dass man den Eindruck hat, er missbillige die Meisterschaftsfeier des FC Bayern.

Dabei war Siegmund, geboren 1439, selbst Herzog von Bayern-München, was damals kein Fußballverein war, sondern ein Teilherzogtum, das nach der Landesteilung von 1392 zusammen mit den Herzogtümern Bayern-Landshut und Bayern-Ingolstadt entstanden war. Siegmund, ein Spross aus dem Hause Wittelsbach, war ein Förderer der Künste, und er legte 1468 den Grundstein für die Frauenkirche. Auch jenseits religiöser Belange, heißt es, habe er sich um Frauen, vor allem junge und schöne, mit Inbrunst gekümmert.

Touristen, die ohne Reiseführer in München unterwegs sind, halten das Neue Rathaus für ein sehr altes Gebäude. Ehrwürdige Gotik, so sieht es ja aus. Doch der Schein trügt. Alles Blendwerk und Camouflage. Das Neue Rathaus ist, wenn man die Vollendung des dritten Bauabschnitts als entscheidendes Datum nimmt, gerade mal 110 Jahre alt. Die Grundsteinlegung für die erste Bauphase - es ist der Gebäudeteil hinter dem Fischbrunnen - erfolgte im August 1867. Architekt des gesamten Komplexes war der in Graz geborene Georg Hauberrisser, der, einer damaligen Mode folgend, das Rathaus im gotischen Stil konzipierte. Was den ältesten Teil des Gebäudekomplexes betrifft, so verfügt dieser getreu dem Vorbild eines mittelalterlichen Rathauses über eine Gerichtslaube, von der, wäre man tatsächlich im Mittelalter, Recht gesprochen würde. Doch das Mittelalter war auch zu Zeiten Hauberrissers schon lange vorbei. Letztlich ist die Loggia ein historisches Architekturzitat ohne amtliche Funktion.

Dessen ungeachtet erwies sich das erste Gebäude angesichts der rasch wachsenden Stadt bald als zu klein, weshalb Erweiterungen unumgänglich waren. Der spektakulärste Anbau entstand in der dritten Bauphase, als Hauberrisser einen langgestreckten Baukörper samt einen 80 Meter hohen Turm hinzufügte - und eben auch den heutigen Meisterfeierbalkon, dessen ursprünglicher Zweck wohl eher auf dem ästhetischen, denn auf dem praktischen Feld zu suchen wäre.

Wo die Fußballer feiern, findet gewissermaßen eine Renaissance der Feudalherrschaft statt

Wer das Figurenprogramm des Rathauses betrachtet, dem fällt auf, dass an der Schaufassade des ältesten Gebäudeteils das Selbstbewusstsein des Münchner Bürgertums unmissverständlich zur Geltung kommt. Nicht die Skulpturen aristokratischer Herrscher stehen da an prominentester Stelle, sondern die Allegorien bürgerlichen Tugenden wie Gewerbefleiß, Häuslichkeit, Bürgermut und Mildtätigkeit. Es ist, als hätte der Magistrat ein Zeichen setzen wollen: Hier regiert das Bürgertum, nicht die Aristokratie. Um so überraschender ist es, dass in der späteren Bauphase um 1900 eine Botschaft Gestalt annimmt, die den tatsächlichen Aufstieg des Bürgertums zu dementieren scheint: An der Fassade des dritten Bauabschnitts, also dort, wo die Fußballer feiern, findet gewissermaßen eine Renaissance der Feudalherrschaft statt. Dort dominieren Herzöge und Könige das Bildprogramm.

Neben Herzog Siegmund blickt dessen Bruder und Mitregent Johann IV., mit einer Lanze bewaffnet, auf den Feierbalkon hinab. Der Bildhauer Julius Seidler hat die Skulptur geschaffen. Nach allem, was man weiß, war Johann ein recht ruppiger Herrscher, der sich allerdings zu keinen nachhaltigen Groß- oder Schandtaten aufschwingen konnte, weil ihn die Pest bereits 1463 dahinraffte. Augenfälliger sind ohnehin die Figuren, die unter neugotischen Türmchen vor der Brüstung der Loggia stehen. Für Fotografen und Fans sind sie häufig ein Ärgernis, weil sie die Sicht auf die Meisterkicker teilweise verdecken.

Die Burschen, die sich so frech vor die Bayernstars stellen, sind Herzog Christoph (1449-1493) und Herzog Wolfgang (1451-1514), beides Söhne von Albrecht dem Frommen. Christoph hat der Bildhauer Hugo Kaufmann als wehrhaften Ritter dargestellt, und es heißt ja auch, dass er bei Ritterturnieren kaum zu schlagen war. Politisch wiederum war er ein Unruhestifter, der keinem Streit aus dem Weg ging. Christoph hat den Beinamen "der Starke" und würde, lebte er heute, im Kugelstoßen oder Gewichtheben zur Weltklasse zählen. Angeblich hat er einen 364 Pfund schweren Stein neun Schritte weit geworfen. Das Trumm liegt noch heute in einem Durchgang zum Brunnenhof der Residenz. Von Wolfgang wird berichtet, er sei faul gewesen, habe sich für Rennpferde und schöne Bauerntöchter interessiert, auch zur Jagd oder zu einem Umtrunk musste man ihn nicht zweimal bitten. Der Künstler Hermann Hahn hat ihn mit einen anmutigen Hüftknick dargestellt.

Flankiert wird der Feierbalkon von Herzog Albrecht dem Weisen (1447-1508), der in Denkerpose - Karl Georg Barth hat ihn so geschaffen - an einem Eck des Rathausturms steht. Albrecht IV. war ein sehr gebildeter Mann, was man nicht von allen bayerischen Herrschern sagen kann. Unter seiner Herrschaft wurde Bayern wiedervereinigt, Biertrinker aber feiern ihn als Schöpfer des Münchner Reinheitsgebots. Auf der anderen Seite ist Prinzregent Luitpold (1821-1912) auf hohem Ross zu sehen, auf das ihn der Erzgießer Ferdinand von Miller gesetzt hat. Das Reiterstandbild gehört zu den auffälligsten Bildwerken an der Rathausfassade, was vor allem Nostalgiker erfreuen dürfte. Der Prinzregent gilt heute als die Verkörperung der guten alten Zeit, als das Bier noch dunkel und die bayerische Welt in Ordnung war - eine fromme Legende, denn tatsächlich war die Prinzregentenzeit ein Ära kultureller und wirtschaftlicher Umwälzungen.

Während Luitpolds Regentschaft wurde auch der FC Bayern gegründet. Der Lokalrivale TSV 1860 München ist älter. Aber doch nicht so alt, dass die Löwen auf Herzog Heinrich den Löwen als Vereinsgründer zurückgreifen könnten. Dieser steht in schwindelnder Höhe auf dem Rathausturm, flankiert von Herzog Otto I. und Rudolf dem Stammler. Der räumliche Abstand zur Meisterschaftsfeier ist jedenfalls enorm.

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SZ vom 27.05.2019/smb
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