Münchner Philharmoniker:Ein Spitzendirigent für den Gasteig

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Offenheit und Wertschätzung des Anderen kennzeichnen seine Umgangsform: Valery Gergiev.

(Foto: Getty Images)

Er ist einer der gefragtesten Dirigenten weltweit: Der Russe Valery Gergiev, Leiter des Mariinski-Theaters, soll der neue Chef der Münchner Philharmoniker werden. Wenn der Coup gelänge, wäre er ein Segen für das Orchester und für die Stadt.

Von Helmut Maurò

Er ist einer der wenigen wirklichen Superstars im internationalen Dirigentengeschäft, und er soll jetzt Chef der Münchner Philharmoniker werden. Bislang ist Valery Gergiev, im Jahr 1953 in Moskau geboren ( und neuerdings auch in der traditionellen Transkription Walerij Abesalowitsch Gergijew geschrieben), musikalischer und künstlerischer Leiter des Mariinski-Theaters und -Orchesters, Chefdirigent des London Symphony Orchesters, Leiter des Festivals "White Nights" in Sankt Petersburg, des Rotterdam Festival und vor allem: ein sehr gefragter Gastdirigent an den ersten Häusern der Welt.

Der Münchner Gasteig stand dabei bis vor kurzem nicht gerade an erster Stelle. Dass der Stardirigent Gergiev in der vergangenen Saison aber den Zyklus mit sämtlichen Symphonien von Dmitri Schostakowitsch nicht nur in New York, London, Wien und St. Petersburg präsentierte, sondern auch in München, und zwar wechselweise mit seinem Mariinski-Orchester und den Münchner Philharmonikern, ließ schon erahnen, dass er für dieses Orchester ein gewisses Faible entwickelt haben könnte.

Am kommenden Mittwoch wird die Personalie Gergiev dem Münchner Stadtrat zur Abstimmung vorgelegt werden. Man könne ruhig davon ausgehen, so Referatssprecher Marc Gegenfurtner, dass dies nicht der Beginn der Verhandlungen mit Gergiev sein werde, sondern der Abschluss. Ebenso geheim wie beim FC Bayern waren die Verhandlungen um den neuen Trainer geführt worden; offenbar hatte man aus den Findungsprozessen der letzten Chefdirigenten gelernt und die Störfeuer der örtlichen Presse abwehren können. Auch wenn die Münchner Abendzeitung schon jetzt vor einer Fehlentscheidung warnt und dem Dirigenten vorwirft, er spreche "nur Russisch und ein russisch gefärbtes Englisch".

Aber erstens ist München kein Dorf, in dem man nur bayerisch gefärbtes Deutsch spricht, und zweitens spricht Gergiev ganz hervorragend Englisch. Schon vor 18 Jahren war das so, als er um 10 Uhr vormittags halb angekleidet in seinem Zimmer im Hamburger Hotel Atlantic stand, den Blick aufs Wasser gerichtet, in der rechten Hand ein Glas Whiskey, in der linken den Telefonhörer, mit Mimik und Ellenbogen gestikulierend, den Journalisten dorthin lenkend, die staubsaugende Putzfrau in die andere Ecke.

Damals sah er noch grimmiger aus mit seinen buschigen Augenbrauen und den schwarzen Bartstoppeln, und ein wenig misstrauisch war er auch, was die westliche Presse betraf, grummelte mit bedrohlich abgründiger Bassstimme, und aus seinen dunklen Augen stach ein scharfer Blick in sein Gegenüber. Dennoch: schon damals zeigte sich sein Geschick, andere für sich einzunehmen. Er hat eine sehr direkte persönliche Art des Umgangs, der Offenheit, der Ausstrahlung, der Wertschätzung des anderen. Er besitzt, man kann es ungeniert sagen, Charisma.

Nur vier Musiker verließen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sein Mariinski-Orchester. Andererseits konnte Gergiev beim Plattenlabel Philips eine Reihe mit Aufnahmen russischer Opern aufnehmen und sie bei diversen Festivals im Westen präsentieren. Dabei beschränkte sich sein Repertoire niemals nur auf die große russische Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts. Verdi war ihm ebenso wichtig wie Wagner, den zu ignorieren er ebenso lächerlich fand wie das Übergehen des Spätromantikers Gustav Mahler. Beide hatten in St. Petersburg dirigiert, und Gergiev ist durchaus ein Orchesterleiter, der Traditionen schätzt und pflegt. Gleich nach dem Untergang des Sowjet-Regimes kündigte er an, wieder mehr Verdi, Wagner, Mahler, Strauss und Berlioz zu spielen. Aber nicht in Klangkopie eines der großen westlichen Orchester, sondern im Kontext der eigenen Aufführungsgeschichte. Den weichen, dunkel glühenden Kirow-Klang konnte er über all die Jahre, über die Turbulenzen in Zeiten der Perestroika und der Wildwest-Kultur unter Präsident Jelzin hinweg bis heute bewahren.

Dass er im Jahr 2012 zwei Spitzenorchester mit einem gemeinsamen Programm auftreten lässt, seine Mariinski-Truppe und die Münchner Philharmoniker mit den hierzulande nicht allzu bekannten Symphonien von Dmitri Schostakowitsch so fulminant in Szene zu setzen vermag, dass sich das Klassik-Publikum eine ganze Saison lang um Karten rauft wie seit Celibidache nicht mehr, das ist selbst im mit hochklassigen Musikaufführungen verwöhnten München etwas Besonderes.

Ein seriöser Vorarbeiter, kein Tyrann

Die Euphorie über seinen Schostakowitsch-Zyklus kam verzögert, aber zuletzt stürmte ein Massenpublikum in den großen Konzertsaal im Gasteig, um die Intensität zu erleben, mit der er mit den Münchner Philharmonikern das Letzte aus der Partitur und dem Geist Schostakowitschs herausholte. Sogar die Diskussion um einen Umbau oder Neubau desselben verstummte. Schon dafür werden die Münchner Stadträte und Landespolitiker den neuen Chefdirigenten lieben. Gergiev ist einer, der mit allen umgehen kann und der keine Scheu zeigt, sich mit allen möglichen Dingen persönlich zu befassen.

Er ist ein Macher, wie man früher sagte, ständig begleitet von Vorwürfen aus den Medien, er mache zu viel und deshalb nicht alles gut. Das ist nicht falsch und richtig schon gleich gar nicht. Gergiev hat immer zu viel getan, vor allem für andere, und hat dabei Unglaubliches geleistet. Künstlerisch, menschlich, organisatorisch. Im Jahr 1991 war er nach München eingeladen worden, um an der Bayerischen Staatsoper eine Aufführung von Modest Mussorgskys opulenter Oper "Boris Godunow" zu dirigieren. Aber bevor es an die ersten Orchesterproben ging, hing der Dirigent erst einmal stundenlang am Telefon. Nicht um seine Familie zu sprechen, die ihn kaum noch sah, sondern um Ersatz für zwei erkrankte Sänger aufzutreiben. Er agierte so, wie er es von zu Hause aus ganz selbstverständlich gewohnt war: Möglichst viel selber in die Hand nehmen, Vorbild sein, andere mitreißen und nicht vor sich hertreiben.

Gergiev ist kein Tyrann, sondern ein seriöser Vorarbeiter, der sich nicht schont und deshalb ohne großen Nachdruck auch von den Musikern mehr zurückbekommt, als diese gemeinhin zu geben bereit sind. Das ist keine wirklich neue Taktik im Umgang mit Menschen, die Höchstleistung bringen sollen, aber sie ist noch immer entwaffnend wirkungsvoll. Das spürten auch Außenstehende, und man begann, den jungen Dirigenten zu umwerben und auszuzeichnen. Im Jahr 1994 wurde er in London zum Dirigenten des Jahres gekürt, vor den ebenfalls Nominierten Claudio Abbado und Simon Rattle. Ein Jahr später trat er im Passionstheater Oberammergau mit einer Salome-Produktion seines Mariinski-Theaters auf, und tags darauf dirigierte er ein Konzert in der Philharmonie. Schon nach den ersten Ehrenbezeugungen sagte Gergiev: "Ich habe viele Preise und Titel erhalten, ich brauche keine mehr."

Zwei Titel sind es vor allem: Sieger des sowjetischen Allunionswettbewerbes und Sieger des Herbert-von-Karajan-Wettbewerbes in Berlin. Der Beste in Ost und West. Alles weitere war für ihn bestenfalls Talmi ehrenhalber. Berlin war ihm wichtig, aber nicht alles. Karajan empfand er als einen eher kühlen Strategen, dessen Orchesterbeherrschung er bewunderte, Bernstein dagegen erlebte er als einen musikalisch und menschlich spontanen Gefühlsmenschen, der in einer Ballettaufführung am Mariinski, damals noch Kirov-Theater, so laut mitsang, dass sich die Leute nach ihm umdrehten. Bernstein, so erzählte Gergiev später, hatte andere Tempovorstellungen, deshalb sang er seine eigene Version mit.

Was den jungen Gergiev aber am meisten verwunderte, ja "schockierte": "dass ein Mann, der Mahler liebt, die Schwanensee-Partitur vollständig auswendig kannte". Eingeladen hatte ihn dann aber Karajan zu einem Studium in Berlin. Kaum verwunderlich: Die sowjetischen Kulturbehörden lehnten das Ansinnen ab, sich in Berlin weiter ausbilden zu lassen. "War vielleicht gar nicht so falsch", sagt Gergiev heute. Immerhin boten sie ihm eine verlockende Alternative: Er sollte Assistent am Kirow-Theater werden. Dies war der Beginn seiner auf schier unerschöpflichem Fleiß und übergroßem Talent gegründeten weltweiten Karriere.

Bei Fototerminen zieht er seine Augenbrauen noch immer eng zusammen, aber vielleicht verbirgt sich hinter dieser zumindest scheinbar grimmigen Mimik auch ein natürliches Misstrauen, das sich besonders gut entfaltete, nachdem der Vater früh starb und sich der junge Gergiev zumindest beruflich allein durchschlagen musste. Und dies in einem in sich zusammenbrechenden Weltreich, in dem sich Ignoranz und Verbrechen zu den stärksten Mächten im Staate verbündeten. Gergiev hätte damals das Land verlassen, das Mariinski und sein Ensemble hinter sich lassen können.

An Spitzenangeboten aus dem Westen hatte es wahrlich nicht gemangelt. Aber er blieb, führte sein Orchester an die Weltspitze heran, förderte die neue Sängergeneration, darunter Anna Netrebko. Die Wahl Gergievs zum neuen Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker ist ein Glück, für das Orchester, für sein Publikum, für die ganze Stadt.

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