Geschichte:Münchens kolossale Käuze

Lesezeit: 5 min

Kaspar Hofmann war der auffälligste Breznverkäufer im München der 1920er-Jahre. (Foto: Stadtarchiv München, DE-1992-FS-NL-KV-2280)

"Münchner Originale": Ein neues Buch stellt mit wunderbaren Fotografien die Lebensgeschichten von Menschen vor, die das Bild der Stadt einst prägten.

Von Wolfgang Görl

Georg Maier war im München der Biedermeierzeit eine stadtbekannte Figur, allerdings eine, die vermutlich weniger Bewunderung als Spott, Hohn oder bestenfalls Mitleid erregte. Die Münchner nannten ihn den "Ewigen Hochzeiter", und als solcher hat er es posthum immerhin geschafft, als kleine Steinskulptur einen Platz am Torbogen des Karlstors zu ergattern, wo auch andere städtische Originale verewigt sind. Es passt zum tragischen Leben dieses Mannes, dass er den Platz eines Tages räumen musste zugunsten des Pferdehändlers Franz Xaxer Krenkl, der den unsterblichen Satz "Majestät, wer ko, der ko!" erfunden hat.

Maier war von der Natur nicht gerade begünstigt, er kam krumm, vielleicht sogar bucklig daher, und auch sonst war er recht wunderlich, so dass man eine psychische Krankheit vermuten kann. Er hat Säckler gelernt, also die Fertigkeit, Kleidung aus Leder zu schneidern, aber wegen seiner psychischen Probleme musste er den Beruf aufgeben. In puncto Amore aber schien ihm das Glück hold zu sein, er hatte eine Frau gefunden, und die Hochzeit stand bevor. Doch einen Tag vor dem Jawort machte sich die Dame aus dem Staub, und Maier stand da, verlassen und verzweifelt.

Der Wurzelsepp aus der Oberpfalz

1 / 6
(Foto: Stadtarchiv München, DE-1992-FS-NL-KV-2310)

Münchens berühmtester Wurzelsepp war wohl der 1830 in Trautenberg in der Oberpfalz geborene Josef Neumeier. Er hatte mehr als 35 Jahre lang einen höchst beliebten Stand auf dem Oktoberfest, wo er selbst gebrannten, scharfen Enzianschnaps ausschenkte - angeblich immer im selben unausgespülten Stamperl. Einmal, so wird erzählt, hat er der Dame eines Offiziers, die den dreisten Wunsch geäußert hatte, ein frisch gespültes Schnapsglas zu bekommen, mit den Worten "Do hoscht dei Gwasch" einen vollen Kübel Wasser über den Kopf geschüttet. Just solche Grobheiten machten den Wurzelsepp populär. Außerhalb der Wiesnsaison verkaufte Josef Neumeier sein hochprozentiges Gebräu in Steingutflaschen in der Stadt.

Der Ferngucker

2 / 6
(Foto: Stadtarchiv München, DE-1992-FS-NL-KV-2250)

Von Mittag bis Mitternacht stand Heinrich Haas mit seinem selbst gebastelten Fernrohr am Stachus, wo er jedermann gegen eine kleine Gebühr die Gelegenheit gab, etwa Sonnenflecken zu beobachten oder in den Mond zu schauen. Haas, geboren 1874, war gelernter Optiker, war aber auch astronomisch bestens bewandert, sodass seine Kunden beim Blick ins Fernrohr ein sachkundiges Referat erhielten. Karl Valentin sagte in seinen Vorträgen über Haas: "Er war der erste ,Gell-Sager' in München. Wer um 10 Pfennig in sein Fernrohr hineinsah, dem gab er die astronomische Erklärung: 'Hier sehen Sie den Mond - gell! -, die weiße Scheibe um den Mond ist der Hof des Mondes - gell!'" Heinrich Haas, der "Fernrohrmann vom Stachus", starb 1929 und wurde auf dem Waldfriedhof bestattet.

Die Unwiderstehliche

3 / 6
(Foto: Stadtarchiv München, DE-1992-FS-NL-KV-1934)

Der Schriftsteller Frank Wedekind war so begeistert von ihr, dass er in einem Gedicht schrieb: "Von vorn besehen bist du die schönste Maid, die je mein Herz aus Liebesnot befreit." Die "schönste Maid" hieß Mary Irber, war im Juni 1884 im niederbayerischen Langenisarhofen auf die Welt gekommen und stand bereits mit zehn Jahren im Ballett des "Deutschen Theaters" auf der Bühne. Es dauerte noch ein paar Jahre, dann trat sie in Münchens Kabaretts und Vergnügungspalästen auf, unter anderem bei den "Elf Scharfrichtern". Die Polizei protokollierte akribisch ihr Auftreten: "Beine frei bis weit übers Knie, sehr kurzer Rock, den sie beim Singen hinten hochhebt, wobei sie sich wie beim Geschlechtsakt bewegt." Es versteht sich von selbst, dass ihr die Männer reihenweise verfielen.

Die Herrin der Schlösser

4 / 6
(Foto: Stadtarchiv München, DE-1992-FS-NL-KV-2292)

Thekla Foag, Jahrgang 1868, hatte in einem Hausdurchgang in der Blumenstraße einen kleinen Laden für "Schlüssel, Altmetalle und Tandlerei". Zahllose Schlüssel hingen an der Flügeltür, auch der winzige Geschäftsraum war vollgestellt wie eine Rumpelkammer mit "verrostetem Gelump" (Karl Valentin). Wer auch immer in München einen Schlüssel verloren hatte, bei Thekla Foag fand er Ersatz. Und wenn der neue Schlüssel nicht ganz exakt ins Schloss passte, griff sie zur Feile und machte ihn passend. Für diese Art von Service verlangte sie normalerweise 20 Pfennige. Thekla Foag, "das Schlüsselfräulein", war die Tochter eines Münchner Schlossers. Geheiratet hat sie nie, obwohl sie als Hausbesitzerin eine gute Partie gewesen wäre.

Der fesche Brezen-General

5 / 6
(Foto: Stadtarchiv München, DE-1992-FS-NL-KV-2280)

Kaspar Hofmann war der auffälligste Breznverkäufer im München der 1920er-Jahre. Aufgebrezelt hatte er sich wie ein Operetten-Offizier: Weiße Uniformjacke, Schärpe, Handschuhe, goldener Orden und riesige Epauletten, dazu eine Kette aus kleinen Brezn. Auf seiner Reklamepostkarte, die der Mann natürlich auch hatte, stand der Spruch: "Alles Gute in großer Zahl, wünscht Dir der Brezen-General". Den Münchnern gefiel es offenbar, ihre Brezn bei einem Händler zu kaufen, der seine Ware mit dem Ruf anpries: "Parrrrade-Brrrretzn gefällig?" Hofmanns Brezn gingen weg wie warme Semmeln. Der Mann gelangte zu beträchtlichem Wohlstand, der aber nicht lange anhielt. Die Inflation 1923 brachte den Brezen-General um sein Vermögen.

Der Puppen-Papa

6 / 6
(Foto: Stadtarchiv München, DE-1992-FS-NL-KV-2293)

Sein Theater in der Blumenstraße gibt es heute noch, über dem säulenbestückten Portal steht in goldenen Lettern "Marionettentheater". Das von Theodor Fischer um die Jahrhundertwende errichtete Gebäude war die Wirkungsstätte von Josef Leonhard Schmid, den die Münchner liebevoll "Papa Schmid" nannten. Als junger Mann war Schmid, geboren 1822 in Amberg, nach München gekommen, wo er sich als Tagelöhner herumschlug. Nebenher bastelte er Krippen- und Kasperlfiguren, und im Dezember 1858 eröffnete er sein Marionettentheater, das zunächst in verschiedenen Veranstaltungssälen und Wirtshäusern gastierte. Sein Hausautor war der Hofbeamte Franz Graf von Pocci, der "Kasperlgraf". Papa Schmid führte das Theater bis kurz vor seinem Tod am 31. Dezember 1912.

Seitdem sahen ihn die Münchner nur noch in seinem Hochzeitsgewand: hellblauer Frack mit goldenen Knöpfen, Blümchen im Knopfloch, Zylinder, Handschuhe und Stöckchen. Damit trottete er durch die Stadt und fragte jeden: "Ham S' mei Nanni net gsehn? Morgen is Hochzeit." Später hat er jeder hübschen Frau, die ihm begegnete, einen Antrag gemacht - formvollendet mit einem Blumenstrauß. Erhört worden ist er nie. Maier, der als Pfründner im Gasteig-Spital wohnte, starb ledig am 25. Mai 1840.

Die Geschichte des Ewigen Hochzeiters Georg Maier - andere Quellen behaupten, sein Name sei Andreas Mägerlein gewesen - ist in dem soeben erschienenen Buch "Münchner Originale" zu lesen, das der Journalist Karl Stankiewitz geschrieben hat. Stankiewitz erzählt mehr oder weniger knapp die Lebensgeschichten dieser Originale, von denen einige wenige noch heute bekannt sind, wohingegen die meisten vergessen oder nur noch älteren Münchnern vertraut sind.

Die Biografien des Rosshändlers Krenkls, des Wiesnwirts Michael Schottenhamel, des Steyrer-Hans, der Hochstaplerin Adele Spitzeder oder des "Kohlrabiapostels" Karl Wilhelm Diefenbach sind gut dokumentiert, schwierig aber wird es, wenn man den Lebensweg des ersten Münchner Hochradfahrers Josef Stängl oder des Hausierers Anton Heinz, genannt "Zwickermann", nachzeichnen will. In Einzelfällen musste dabei auch der erfahrene Journalist Stankiewitz kapitulieren.

Was das Buch aber vor allem auszeichnet, sind die Fotografien. Diese Bilder hat Karl Valentin gesammelt, der ja stets bemüht war, Fotos, Postkarten und andere Abbildungen zu ergattern, auf denen München, seine Häuser, Straßen und Plätze zu sehen waren, aber auch die Menschen, die in der Stadt lebten und insbesondere die Münchner Originale. Michael Stephan, der Direktor des Stadtarchivs, schreibt in seinem Vorwort: "Valentins Sammlung war aber nicht Selbstzweck, immer versuchte er auch mit Lichtbildervorträgen und kleinen Ausstellungen bei der Münchner Bevölkerung ein Bewusstsein für die Welt von gestern zu schaffen."

SZ PlusAlte Residenz in München
:Die Burg im Untergrund

Im Mittelalter ließen die Herzöge am Stadtrand von München eine Festung errichten, um sich vor den Bürgern zu schützen. Eine Treppe in der Residenz führt hinab zu den Überresten der Neuveste.

Von Jakob Wetzel

Mitte der 1930er-Jahre dachte Valentin daran, seine Fotoschätze in eine öffentliche Sammlung zu integrieren. Dazu legte er ein Verzeichnis an, das einen guten Überblick über den beeindruckenden Umfang seiner Fotokollektion bietet. Unter anderem besaß er 1225 Originalfotografien von Volkssängern und Volkssänger-Gesellschaften, er hatte Bilder von sämtlichen Münchner Vergnügungsstätten, zudem Fotos, Glas-Diapositive und Stereoskopbilder mit Ansichten des alten Münchens, Kitsch- und Ansichtspostkarten allerart, darunter solche, die König Ludwig II. feierten, und schließlich verfügte der Komiker über eine Sammlung von Porträts Münchner Originale vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Einen Großteil der Kollektion hat er 1939 für 20 000 Reichsmark an das Stadtarchiv verkauft. Heute besitzt das Archiv insgesamt 2313 Fotos und Postkarten, die Valentin zu Lebzeiten zusammengetragen hat.

Stankiewitz' Texte ranken sich gewissermaßen um 75 Glasdiapositive, die Valentin gesammelt und bei seinen Lichtbildervorträgen gezeigt hat. Ob jeder dieser Gaudiburschen, Kraftlackln, Schausteller, Musiker, Spinner, Käuze und Sonderlinge wirklich den Ehrentitel "Original" verdient, ist gewiss Ansichtssache.

Einige von ihnen, wie etwa der Hotelier Gregor Trefler oder der Großgastronom Georg Lang, würde man eher als gewöhnliche Prominente klassifizieren, denen die immer auch etwas volkstümlich-skurrile Aura, die ein Original umflort, vermutlich abging. Aber das kann man so oder auch anders sehen, entscheidend ist ja, wen Karl Valentin als Original betrachtet hat, und da gehören die zwei nun einmal dazu.

Der vielleicht größte Wert dieses wunderbaren Buches ist ohnehin ein anderer: Es vergegenwärtigt eine Welt, die längst versunken ist, das alte München mit seinen Gassen, Winkeln und verschnarchten Ecken, eine Welt, die noch überschaubar war und in der man sich kannte, in der die Leute in Wirtshäusern und Hinterhöfen zusammenkamen und darüber plauderten und lästerten, was in der Stadt, die man als einen kleinen Kosmos betrachtete, gerade passiert war.

"Ham S' mei Nanni net gsehn?" Der "Ewige Hochzeiter", hier ein abfotografiertes Ölgemälde von Josef Widmann. (Foto: Stadtarchiv München, DE-1992-FS-NL-KV-2248)

Spinner, Halbverrückte und Außenseiter gehörten zum Stadtbild, man lebte mit ihnen und lachte über sie, was für die Betroffenen nicht unbedingt lustig war. Heute würde sich wahrscheinlich irgendeine Fürsorge-Institution um diese Schicksalsgestalten kümmern, was einerseits ein Fortschritt ist, andererseits aber auch zeigt, dass die Gesellschaft jeden, der nicht der Norm entspricht, vorzugsweise der Betreuung durch Experten überantwortet.

Die Lebensgeschichten, die Stankiewitz erzählt, fügen sich wie ein Mosaik zu einem Bild, auf dem die Spitzen der Gesellschaft ebenso zu sehen sind wie die Gestrandeten und Verkommenen. Der 1745 in München geborene Georg Pranger etwa, der den bayerischen Herrschern diente, gehört gewiss zu den Privilegierten. Er wirkte als angesehener Kammermusiker im Hoforchester, vor allem aber fungierte er als Hofnarr, als letzter seiner Art in Bayern. Seine derben Scherze machten ihn auch bei den Bürgern populär, und seinem Amt entsprechend schreckte der "Prangerl", wie ihn die Münchner nannten, auch nicht davor zurück, König Max I. Joseph oder dessen Gemahlin Karoline zum Narren zu halten.

Die einen waren erfolgreich, die anderen sind gescheitert

Auf der anderen Seite sind da die beinahe dörflich anmutenden Figuren aus dem Kleine-Leute-Milieu, deren Biografien Stankiewitz mitunter nur bruchstückhaft oder gar nicht rekonstruieren konnte: Xaver Mayer etwa, der Stiefelputzer vom Karlstor; Josef Robl, der fahrende Sägfeiler von der Au, oder Eduard Bachmayer, der "Rahmerlmo".

Welch großartige Käuze lebten einstmals in der Stadt: Der "Hofbräuhaus-Lenbach", das "Trambahnpfeiferl", der "Pfui-Teifi-Professor", der "Wasserbeschwörer", die "Mina-Hupf", der "Balsam-Bene" und so weiter. Viele von ihnen, wenn nicht die meisten, waren arme Teufel, manche wurden verspottet, andere belächelt, und doch, so scheint es, gehörten sie dazu, waren nicht nur geduldet, sondern oft auch beliebt, und in der Regel war ihr absonderliches Treiben die Basis ihres Lebensunterhalts.

Es ist Karl Valentins Verdienst, der Nachwelt eine Bildergalerie überliefert zu haben, die zeigt, was für unterschiedliche und originelle Menschen im alten München gelebt haben. Und Karl Stankiewitz' Verdienst ist es, dass diese Fotos nun in einem Buch zu bewundern sind, versehen mit der Lebensgeschichte der Porträtierten. Die einen waren erfolgreich, die anderen sind gescheitert, was sie aber verbindet, ist die Konsequenz, mit der sie, wie man heute sagt, ihr Ding gemacht haben - egal, was die Leute dazu sagten.

Karl Stankiewitz: Münchner Originale. Fotografien aus der Sammlung Karl Valentin im Stadtarchiv München. Allitera Verlag, 288 Seiten mit vielen Bildern, 24,90 Euro.

© SZ vom 31.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Literatur
:Das sind Münchens größte Schriftsteller

Zum ersten Mal gibt es einen Abriss über die Literaturgeschichte der Stadt - vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Ein großes Projekt mit kleinen Lücken.

Von Antje Weber

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: