Süddeutsche Zeitung

Kultur:Was das Publikum bei den Klassik-Festivals in diesem Sommer erwartet

Keine Impfausweise und Tests mehr, die Masken sind auch gefallen, und die Häuser fahren auf 100 Prozent. Alles wieder wie vor Corona? Eine Übersicht.

Von Jutta Czeguhn

Dass die große Leichtigkeit zurückgekehrt wäre in diesem Klassikfestival-Sommer 2022, lässt sich nun wirklich nicht behaupten. Kaum scheint Corona mit all seinen Nebenwirkungen - zumindest gefühlt - durch die Tür, sind neue Krisen über den Klassik-Kulturbetrieb hereingebrochen. Mit dem Skandal um Ex-Ballett-Chef Igor Zelensky und seiner angeblichen Affäre mit einer Putin-Tochter hat die Münchner Staatsoper turbulente Wochen hinter sich, Salzburg steckt mitten drin in der Debatte um die Einflussnahme russischer Sponsoren.

Alles scheint irgendwie dünnhäutig und im Ausnahmezustand. Schnell kann da das Eigentliche in den Hintergrund geraten, die Musik. Und davon haben die großen Sommerfestivals heuer viel Spannendes und Großartiges auch jenseits des Kanons zu bieten. Eine weitere gute Nachricht, zumindest aus Publikumssicht: Es sind noch Karten zu haben, für fast alles. Nur in Bayreuth steht die Ticket-Ampel schon für alle Opern auf Rot.

Alles beim Teufel mit einem Strauß Strauss

Bei den Münchner Opernfestspielen geht's zum Auftakt mit dem Teufel zu, gleich mit mehreren. Simon Stone inszeniert "Die Teufel von Loudun" (mit Wolfgang Koch), ein klangradikales Skandalwerk, das der katholische Pole Krzysztof Penderecki 1968 im Auftrag der Hamburgischen Staatsoper komponierte. Heute ist es mehr denn je zu lesen als Parabel über Pseudomoral und die Manipulierbarkeit des Menschen. Zum Gutteil mit Nazi-Bonzen besetzt war das Nationaltheater 1942 bei der Uraufführung von Richard Strauss' Oper "Capriccio" , die ein Riesenerfolg wurde für den nazifreundlichen Komponisten und seinen Leib-Dirigenten Clemens Krauss. Eine unbehagliche Ausgangslage, die David Marton, 1975 in Budapest geboren, in seine Neuinszenierung des Werks hineinzumengen hat.

München und Strauss - die Staatsoper wagt eine feste, kritische Umarmung, wenn sie neben "Capriccio" (mit Diana Damrau und Pavol Breslik) und dem "Rosenkavalier" auch "Die schweigsame Frau" und "Die Frau ohne Schatten" ins Programm hievt. Ausschließlich kulinarisch ist kaum etwas bei diesen Festspielen. Ob das der Grund dafür ist, dass es, für Münchner Verhältnisse bislang undenkbar, noch reichlich Karten gibt? Auch für Abende mit den ganz großen Namen wie Ian Bostridge, Jonas Kaufmann, Marlis Petersen oder Christian Gerhaher, die sich bei einem großen Liedreigen quasi die Klinke in die Hand geben. Hat das Star-System an Zugkraft eingebüßt? Einer der verdienten Durchlüfter abgestandener Opern-Antiquitätenkammern ist Barrie Kosky, der an der Staatsoper nicht nur den "Rosenkavalier" in eine neue Zeit getragen hat. Seine hinreißende, kluge Interpretation von Leoš Janáčeks "Das schlaue Füchslein" wird bei der kostenlosen "Oper für alle" nach besten Kräften dabei helfen, der kulturellen Klimakrise zu trotzen, sponsored by BMW.

Münchner Opernfestspiele, 24. 6. - 31. 7., Bayerische Staatsoper und ihre Spielstätten, Karten unter www.staatsoper.de

Der "Ring" und die rote Ticket-Ampel

Auf Barrie Koskys "Ring des Nibelungen" wird man bis 2023 warten und sich dazu nach London ans Royal Opera House begeben müssen. Als persönlichen Exorzismus hat er seine Version der "Meistersinger" (2017) bezeichnet, zu der ihn Katharina Wagner überredet hatte. Kosky, der australische Jude, der sich seinen deutschen Pass während der Bayreuther Probenzeit beim Nürnberger Ordnungsamt an der Judengasse abholte, hat so etwas wie Frieden geschlossen mit dem antisemitischen Genie-Monster Wagner. Bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen sind Koskys "Meistersinger" leider nicht zu erleben, dafür aber beinahe alles andere, was dort, im Allerheiligsten, Aufführungsberechtigung hat:

Valentin Schwarz' neuer "Ring", Roland Schwabs neuer "Tristan", zudem "Lohengrin", "Tannhäuser" und "Der Fliegende Holländer", den wieder Oksana Lyniv dirigiert. Wer jetzt noch keine Karten hat, wird weder sie noch die phänomenale Lise Davidsen als Sieglinde zu sehen bekommen. Die Kartenwünsche aus aller Welt haben das verfügbare Kontingent traditionell um ein Mehrfaches überstiegen. Die "Ticket-Ampel" im Onlineshop des Grünen Hügels zeigt gnadenlos auf Rot, im Festspielhaus gibt es nur noch für die Konzerte von Andris Nelsons Karten. So bleiben Opernfans wenigstens die unbequemen Sitze dort erspart. Ganz ohne Dress-Code, aber mit Picknick-Korb kann man sich am 27. Juli und 2. August zum kostenlosen Festspiel-Open-Air nach Bayreuth aufmachen. Oder beim Ring-Endspiel dabei sein, wenn am 5. Juli die "Götterdämmerung" in ausgewählten Programmkinos übertragen wird.

Bayreuther Festspiele, 24. 7. bis 27. 8., mehr zum Rahmenprogramm, etwa der Veranstaltungsreihe "Diskurs Bayreuth", unter www.bayreuther-festspiele.de

Selbstreinigungsprozess an der Salzach?

Der Salzburger Festspielintendanz ergeht es heuer ein wenig so wie dem Münchner Kollegen; große Namen, ein attraktives Programm, und doch läuft der Kartenverkauf schleppender als sonst ("Jedermann" ist natürlich ausverkauft!). Liegt es daran, dass das hyperprivilegierte, globale Kulturbürgertum noch nicht wieder zu alter Reisefreudigkeit zurückgekehrt ist? Oder dass Inflation oder die Diskussion über kremlnahe oder die Menschenrechte verachtende Sponsoren das Publikum fern vom Sommer-Pilgerort an der Salzach hält?

Wem das Phänomen um gekaufte Kunst aber eh wurscht ist, oder wer großmütig auf Selbstreinigungsprozesse hofft, braucht nicht unbedingt den umstrittenen Dirigenten-Star Teodor Currentzis buchen, um heuer in Salzburg Herausragendes zu erleben. Da ist etwa Christof Loys Inszenierung von Puccinis "Il trittico" mit Asmik Grigorian als Suor Angelica oder Arthur Honeggers Oratorium "Jeanne d'Arc au bûcher", bei dem die französische Großschauspielerin Isabelle Huppert auftritt. Die Reihe der Solistenkonzerte im Programm lockt mit Namen wie Igor Levit, Grigory Sokolov oder Daniil Trifonov. Letzteren kann man im großen Klassik-Festivalzirkus auch andernorts treffen.

Salzburger Festspiele, 18. 7. bis 31. 8., Karten unter www.salzburgerfestspiele.at

Klassik-Kuren und Sisis letztes Foto

Überhaupt, wer sagt, dass es unbedingt Salzburg, München oder Bayreuth sein muss? Daniil Trifonov jedenfalls kann man auch in Unterfranken begegnen, beim "Kissinger Sommer". Am 16. Juli spielt der Weltklasse-Pianist in der Kurstadt Werke von Strawinsky, Brahms und Schumann. Bei dem Festival, 1986 gegründet, tritt neben Klassik-Größen wie Sir Simon Rattle, Kent Nagano, Adam Fischer, Joana Mallwitz, Rudolf Buchbinder, Isabelle Faust oder Sir András Schiff übrigens auch die Bayreuther Sieglinde, Lise Davidsen, auf (9. Juli). Provinziell sind hier allenfalls die Preise, die günstigsten Karten kosten 25 Euro.

Zusammen mit den Wiener Symphonikern ist die norwegische Sopranistin unter anderem mit Richard Strauss' "Vier letzten Liedern" zu erleben, im Anschluss gibt es eine musikalische Lesung aus Briefen von Kaiserin Elisabeth und Kaiser Franz Joseph. Was damit zu tun hat, dass sich das Festival in diesem Jahr den historischen Querverbindungen zwischen Böhmen, Österreich, Ungarn und Bad Kissingen, historisch wie in die Zukunft gerichtet, widmet. Na, und die Sisi-Maniacs wissen eh Bescheid, beim Spaziergang im Kurbad soll schließlich das letzte gemeinsame Bild der notorisch Fotoscheuen mit ihrem Franzl entstanden sein. Und ein Sisi-Denkmal gibt es auch, dort wird ebenfalls konzertiert.

Kissinger Sommer, bis 17. 7., www.kissingersommer.de

Walküren im "Tarnkappenbomber"

Es gehört zum Charme von Festivals, dass sie einen an besondere Orte führen. Sind es beim Kissinger Sommer die herrlichen historischen Stätten eines internationalen Nobelbades, wo sich einst das gesellschaftliche Hochparkett im Kurpark, im Casino oder Grand Hotel traf, fesselt im Tiroler Erl moderne Architektur. Nur wenige Kilometer hinter der Grenze zu Bayern, in der spektakulären Kulisse des Kaisergebirges, setzt seit 2012 ein Konzertbau des Wiener Architekturbüros Delugan Meissl Architect mit seiner tiefschwarzen Fassade einen dramatischen Akzent zum gegenüber liegenden Passionsspielhaus aus den Fünfzigerjahren, was ihm den Spitznamen "Tarnkappenbomber" einbrachte.

Etwas wagen, darum geht es auch künstlerisch bei den Tiroler Festspielen Erl, gegründet 1997 vom Dirigenten, Komponisten und Regisseur von Gustav Kuhn, der 2018 nach einem "Me Too"-Skandal dort alle Funktionen aufgeben musste. Bernd Loebe, Frankfurts Opernintendant, ging das Wagnis ein, das Festival vor dem Aus zu bewahren. In diesem Jahr nimmt man sich unter anderem das Familiendrama "Bianca e Falliero" vor, Gioacchino Rossinis letzte für die Mailänder Scala geschriebene Oper (Premiere 8. Juli). Und die nimmermüde Brigitte Fassbaender treibt mit der "Walküre" (9. Juli) Wagners "Ring" weiter, der 2024 abgeschlossen sein soll.

Tiroler Festspiele Erl, 7. bis 24. 7, www.tiroler-festspiele.at

Gala-Menü mit Anna N.

Wer hat gerade noch gefehlt in diesem Klassik-Festspielsommer? Nicht in München und auch nicht in Salzburg, wo sie einst ihre Weltkarriere begann, wird Anna Netrebko heuer auftreten. Die Russin, der man ihre vermeintliche Nähe zum Kreml inzwischen wieder nachzusehen beginnt, singt bei den Thurn und Taxis Schlossfestspielen in Regensburg. Für Fürstin Gloria stand das nie außer Zweifel. Und natürlich bekommt man sie nicht ohne ihren Ehemann, Tenor Yusif Eyvazov, zu hören (22. Juli). Sogar ein Gala-Menü im Beisein der beiden ist buchbar (nur telefonisch unter 0941- 2000 900). Wem danach nicht wirklich Sinn steht oder die Preise zu fürstlich sind (Konzert 144 bis 265 Euro), kann im Schlosshof - für etwas weniger Geld - auch der wunderbaren Elīna Garanča lauschen (17. Juli).

Thurn und Taxis Schlossfestspiele, 15. bis 24. 7, Regensburg, www.schlossfestspiele-regensburg.de

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