Münchner Oberbürgermeister Christian Ude:Zeit zu gehen

Christian Ude

Christian Ude hat ausdirigiert. Nach fast 21 Jahren muss er sich von seinem Amt als Oberbürgermeister verabschieden.

(Foto: Stephan Rumpf)

Nach zwei Jahrzehnten muss Münchens Oberbürgermeister Christian Ude sein Amt aufgeben. Ein Gesetz will es so. Leicht fällt ihm der Abschied nicht, das bekommen auch seine Parteifreunde zu spüren. Dabei könnte er eigentlich ganz gelassen sein.

Von Peter Fahrenholz

Kaum etwas ist für Politiker, die an jahrelange Wahlerfolge gewöhnt sind, so schwer, wie Abschied zu nehmen. Es ist ein bisschen wie beim Skispringen: Man kann den Absprung verpassen, der Wind weht plötzlich aus der falschen Richtung, die Landung geht daneben und versaut einem die Gesamtwertung.

Auch Politiker können den Absprung verpassen und werden dann abgewählt, obwohl sie gerne noch geblieben wären. So wie Helmut Kohl. Oder sie werden von den eigenen Leuten gestürzt. So wie Edmund Stoiber. Oder sie werden noch im Amt zur tragischen Figur, deren Abschied jeder herbeisehnt, vor allem die eigene Partei. So wie bei Klaus Wowereit.

Christian Ude ist das alles nicht passiert. Er hat schon lange vorher gewusst, wann er gehen muss. Das Gesetz über die Altersgrenze für kommunale Mandatsträger, so unsinnig es auch sein mag, will es so.

Aber vielleicht ist genau das Udes Problem: Von der Gewissheit gepeinigt zu werden, gehen zu müssen, lange bevor man so weit ist, auch gehen zu wollen. Wie bei einer Sprungschanze mit sehr, sehr langem Anlauf. Ein perfekter Absprung fällt dann schwer.

Knapp vier Wochen vor der Kommunalwahl sitzt Christian Ude, der München fast 21 Jahre als Oberbürgermeister regiert hat, in seinem Amtszimmer und sagt einen bemerkenswerten Satz über diesen elend langen Anlauf zum Abschied. Seit dem Jahreswechsel verspüre er ein Gefühl der Erleichterung, wenn er an das Ende seiner Amtszeit denke. Seit dem Jahreswechsel. Und vorher?

Hinter Ude liegen harte Monate. Er hätte seinen Abschied mit der Spitzenkandidatur für den Landtag ja gerne hinausgeschoben. Im Idealfall wäre er Ministerpräsident geworden, für den gibt es keine Altersgrenze. Im zweitbesten Fall hätte er die SPD als Juniorpartner in eine große Koalition geführt, und wer weiß, vielleicht wäre er bei einer solchen Regierung mit dabei gewesen.

Wenn wenigstens der rote Balken am Wahlabend kräftig nach oben gezeigt und die SPD einen üppigen Zuwachs hätte verbuchen können. Das wäre der drittbeste Fall gewesen. Ude musste mit dem viertbesten Szenario vorlieb nehmen: Dass die SPD in München nicht abgestürzt ist. Dass dieses Ziel erreicht worden ist, rechnet Ude bei jeder Gelegenheit penibel vor.

6,8 Prozentpunkte habe die SPD in München zulegen können. Auch beim Dreikönigstreffen der SPD im Januar hat Ude diese Zahl vorgetragen. Die Zuhörer haben geklatscht, wie es sich gehört, aber ohne Enthusiasmus. Rechenkunststücke machen aus einer Niederlage keinen Sieg, auch keinen gefühlten.

Der Wahlausgang hat Ude nicht sonderlich gejuckt

Mit fast fünf Monaten Abstand erweckt Christian Ude in seinem Amtszimmer den Eindruck, als habe ihn der Wahlausgang nicht sonderlich gejuckt. "Ich habe mir nie vorstellen können, dass der Machtwechsel gelingen könnte", sagt er. Vermutlich ist das noch nicht einmal gelogen, aber es ist auch nur die halbe Wahrheit. Ude, so schildert es ein erfahrener Udologe, sei zu 150 Prozent rational strukturiert.

Zugleich sei er aber zu 150 Prozent emotional. Ganz abgesehen davon, dass das verdammt viele Prozente sind, ergibt das eine brisante Mischung. Immer wieder rebelliert der Bauch gegen den Kopf, wird nüchterne Ratio von heißem Zorn überschwemmt. Vom Kopf her mag die Schlappe abgehakt sein, dem Bauch hat sie schwer zugesetzt. "Der hatte einen gewaltigen Blues", sagt einer aus dem inneren Zirkel über den Ude in den Wochen nach der Landtagswahl.

Schon immer war Ude "etwas dünnhäutig, was Kritik angeht", sagt ein anderer langjähriger Weggefährte. Im Wahlkampf hat sich dieser Zug verstärkt. Jeden Dienstag hat sich Udes Wahlkampf-Team getroffen, und der Ablauf war immer ähnlich. Zu Beginn der Besprechung hat der Spitzenkandidat eine Liste mit Dingen präsentiert, die ihn geärgert haben. Wer wieder irgendwo etwas gesagt hat, wo die Medien wieder etwas schief dargestellt haben.

Bayerns SPD hat in den langen Jahren der Machtlosigkeit eine Mischung aus sektiererischen und besserwisserischen Zügen entwickelt. Wer nichts zu sagen hat, muss sich zwangsläufig aufs Mosern beschränken und wird in dieser Disziplin irgendwann ziemlich gut. Also hat Ude in den Dienstagsrunden immer etwas gefunden, das er nicht goutiert hat.

"Was ärgerlich war, sind einige Bezirksfürsten", sagt er. Bezirksfürsten, für die vor allem wichtig war, dass Ude möglichst wenig münchnerisch rüberkommt. Dass man damit dem eigenen Spitzenkandidaten, der nun mal der erfolgreiche Münchner OB ist, seinen Markenkern geraubt hat, haben die Wahlstrategen der Landespartei bis heute nicht erkannt.

Für Ude war sein Ausflug in die Landespolitik im Grunde ein Opfergang. "Es war als One-Man-Show angelegt, das konnte nicht gut gehen", sagt ein langjähriger Vertrauter. Und Ude habe das Gefühl, dass dieser Opfergang nicht genügend honoriert wird, weder von der eigenen Partei, und erst recht nicht von den Medien.

Von denen fühlt er sich runtergeschrieben, vor allem von der Süddeutschen Zeitung. In Udes Bauch rumort seither eine irrationale Angst, die auch seinen Parteifreunden nicht verborgen geblieben ist: Dass jetzt auch seine politische Lebensleistung in Misskredit gebracht werden soll.

Udes Kopf müsste wissen, dass das Quatsch ist. Wer 20 Jahre lang mit Werten jenseits der 60-Prozent-Marke im Amt bestätigt wird, sitzt nicht aus Zufall dort. Udes Leistungen in dieser Zeit werden noch nicht einmal von der Opposition bestritten.

München steht wirtschaftlich gut da

Ude habe die Stadt "gut zusammengehalten", sagt Josef Schmid, der OB-Kandidat der CSU. Es sei "klug und richtig" gewesen, nach den Bremsmanövern der Kronawitter-Jahre auf die Wirtschaft zuzugehen. Und was die Akzeptanz von Schwulen und Lesben in der Stadtgesellschaft angehe, "da war er seiner Zeit voraus".

Tatsächlich kann Ude eine Bilanz vorlegen, von der der Berliner Lebemann Wowereit nur träumen kann. Die Stadt steht wirtschaftlich gut da, sie investiert in ihre Zukunft wie kaum eine andere.

Und darum, dass er entgegen dem neoliberalen Zeitgeist Anfang des Jahrtausends Unternehmen der kommunalen Daseinsvorsorge nicht verkauft, sondern behalten hat, beneiden ihn längst Kommunalpolitiker aus ganz Deutschland. Seine Leistung als OB sei "mit Sicherheit überragend", sagt einer aus Udes Stadtregierung. So einer müsste eigentlich gelassen in Pension gehen können.

Doch Ude ist nie gelassen gewesen. Die stabilen Wahlergebnisse täuschen darüber hinweg, dass es bei ihm immer starke Schwankungen gegeben hat. Phasen euphorischer Tatkraft haben sich mit Perioden voller Lustlosigkeit und Überdruss abgewechselt. Als ausgerechnet sein Vorgänger Kronawitter 2004 dafür sorgte, dass Udes Hochhauspläne bei einem Bürgerentscheid abgeschmettert wurden, war er nahe daran, alles hinzuwerfen.

Auch zur Kommunalwahl 2008 wollte er nicht mehr antreten. Wer 15 mal Weihnachtsmärkte eröffnet, den Stadtgeburtstag gefeiert und "Ozapft is'" gerufen hat, dem wird irgendwann fad. Ude musste damals mühsam zum Weitermachen überredet werden. Den Ausschlag hat letztlich sein Amt als Städtetagspräsident gegeben, das wie eine Hallo-Wach-Tablette auf Ude gewirkt hat. "Das hat ihn und uns gerettet", heißt es im rot-grünen Rathaus-Lager.

Doch der nächste Abschwung hat nicht lange auf sich warten lassen, im Sommer 2010 stand Ude erheblich unter Druck. Die Münchner Olympiakandidatur drohte wegen der streitbaren Garmischer Bauern schon im Vorfeld zu scheitern, die städtischen Kliniken gerieten erstmals in die Schlagzeilen (aus denen sie bis heute nicht verschwunden sind), ein Ude-Nachfolger in der SPD war nicht in Sicht, und der unvermeidliche politische Abschied rückte allmählich ins Bewusstsein.

In dieser Lage war die Landtagskandidatur, die im Sommer 2011 publik wurde, wie ein Befreiungsschlag. Ude, so schildert es einer aus dem innersten Machtzirkel, habe plötzlich wieder enorme Kräfte entwickelt. Es sah ja auch gut aus am Anfang, die Umfragen verhießen einem Dreierbündnis aus SPD, Grünen und Freien Wählern eine Mehrheit, die CSU war düpiert und Ude auf einmal sogar eine bundespolitisch interessante Figur. Auch bei der letztlich gescheiterten Olympiakandidatur blieb nichts an ihm hängen, jeder wusste, dass es ein abgekartetes Spiel in der sinistren IOC-Welt war.

Gehalten hat dieses Hoch dann nicht sehr lange. Denn als deutlich wurde, dass sich die Freien Wähler nicht auf ein Dreierbündnis gegen die CSU festlegen lassen würden, war es plötzlich so, wie immer bei der SPD in Bayern: Es fehlte die Machtoption. Und damit begann das, was der Ude-Gefolgsmann die "dritte Phase" dieser Legislaturperiode nennt. "Das war die, wo alle gemerkt haben, das wird nichts, nur er selber nicht". Ude, das schildern alle, die ihn im Wahlkampf erlebt haben, kämpfte bis zur letzten Minute unverdrossen.

Problemstau bedroht Reiters Wahlchancen

Doch in Münchens Kommunalpolitik blieben die Dinge unerledigt liegen, und der Problemstau bedroht nun die Wahlchancen von Udes Wunschnachfolger Dieter Reiter. "Er hat in der Verwaltung extrem viel schleifen lassen", sagt CSU-Mann Schmid.

Dieses Urteil wird im rot-grünen Lager durchaus geteilt. "Die Stadt ist eigentlich seit der Landtagskandidatur mehr oder minder führungslos", konstatiert einer aus Udes Führungsmannschaft selbstkritisch. Die Stadtverwaltung schlingere ungesteuert vor sich hin, jeder Referent mache sein eigenes Ding, und Ude und seine beiden Bürgermeister interessiere das alles nicht.

Synonyme dafür sind das Finanzdebakel bei den Kliniken und der unerklärlich lange Leerstand städtischer Wohnungen. "Extrem ärgerlich" nennt Ude die Sache mit den Wohnungen, einer seiner Gefolgsleute wird deutlicher: "Das ist ein krasses Versagen der Stadtverwaltung."

Doch Ude reagiert derzeit auf Kritik noch allergischer als sonst. Für den Wahlkampf des SPD-Kandidaten Dieter Reiter ist das ein Problem. Denn der muss auch sagen, wo er neue Akzente setzen, den Kurs seines Vorgängers womöglich ändern will. Ude findet, das sei doch kein Problem, die SPD habe die Mischung aus Kontinuität und Korrektur zwischen Vorgänger und Nachfolger doch immer hingekriegt.

Aus der SPD hört man dazu, dass Ude die Kontinuität deutlich mehr schätze als die Korrektur. Offen reden will darüber keiner. Wer allzu deutlich Neuerungen anmahnt, muss mit einem prompten Anruf vom Chef rechnen. Ob man damit den bisherigen Erfolgskurs in Frage stellen wolle? Das seien "jetzt mal nicht die angenehmsten Gespräche", sagt einer, der einen solchen Anruf über sich ergehen lassen musste.

Dass sich Ude im Wahlkampf voll für Reiter ins Zeug legen würde, kann man jetzt so nicht sagen. Die Nominierung des Kandidaten hat er ebenso geschwänzt wie den Programmparteitag. Und bei der bislang einzigen gemeinsamen Großveranstaltung, dem Dreikönigstreffen, verschwand Ude nach einem relativ schmucklosen Grußwort noch vor der Reiter-Rede.

Er ging stattdessen lieber zur Isar-Segnung der griechischen Gemeinde. "Schön war das nicht", heißt es in der SPD dazu, doch Ude kann die Irritation überhaupt nicht verstehen. Er sei immer am Dreikönigstag zu den Griechen gegangen, auch wenn er selbst der Spitzenkandidat gewesen sei. Es macht allerdings einen Unterschied, ob der Spitzenmann nach der eigenen Rede geht.

Oder ob der alte Spitzenmann geht, noch bevor der neue geredet hat. Die SPD erduldet das in einer Art stummer Verzweiflung, keiner will den Patriarchen unnötig reizen und damit den eigenen Wahlkampf gefährden. Die Genossen behandeln Ude derzeit so, wie man barfuß durch ein Distelfeld gehen würde: ganz vorsichtig.

Kritik wird zur Majestätsbeleidigung

Ein Wunder ist das nicht. Fast 21 Jahre im Amt, das ist eine fast unvorstellbar lange Zeit. Fünf Jahre mehr als Helmut Kohl, sieben mehr als Edmund Stoiber. Da wird einer zum Monument. Und Kritik zur Majestätsbeleidigung. 21 Jahre bedeuten, dass man unweigerlich seinen eigenen Fehlern und Versäumnissen begegnet. Und dass es immer unwahrscheinlicher wird, diese Fehler und Versäumnisse zu begradigen. Denn warum sollte einer in den zweiten zehn Jahren schaffen, was ihm die zehn Jahre zuvor nicht gelungen ist?

Das Klinikdebakel ist dafür ein Beispiel. Die Grundlagen für die Misere sind alle von Rot-Grün selbst geschaffen worden. Fachfremde Absprachen, mit denen Leute in Ämter gehievt wurden, denen sie nicht gewachsen waren. Und wer korrigiert sich schon gerne selbst, wenn die Dinge, die er mit eingerührt hat, beginnen, aus dem Ruder zu laufen?

Da wartet man doch lieber erst mal ab. Nicht nur CSU-Mann Schmid, der selbst gerne OB werden möchte, ist deshalb der Meinung, dass zwei Amtsperioden genug sind für den OB einer Millionenstadt. Auch im Lager von Rot-Grün glauben viele, dass Ude den besten Zeitpunkt zum Aufhören schon verpasst hat. "Das war eine Amtszeit zu viel", sagt einer.

Christian Ude hingegen glaubt das überhaupt nicht. "2008 wäre wirklich zu früh gewesen", sagt er. Und als ob er alle seine Kritiker Lügen strafen möchte, entfaltet er kurz vor der Ziellinie noch einmal ungeahnte Aktivitäten. Fast scheint es zu sein, als ob es noch eine vierte Phase in Udes letzter Amtszeit gibt. Spät, sehr spät kümmert sich Ude als neuer Aufsichtsratschef endlich selber um die Kliniken. Und das hat ihm einen regelrechten politischen Adrenalinstoß versetzt.

"Das ist noch einmal eine große Herausforderung, ein richtig großer Brocken", sagt er. Mit dem Sanierungskonzept, das die Berater von Boston Consulting vorgelegt haben, liegen die unangenehmen Wahrheiten endlich offen auf dem Tisch. Es wird zu harten Einschnitten kommen, die der neue Stadtrat dann umsetzen muss. Aber Ude hat immerhin noch den Pflock eingeschlagen - und das freut ihn sichtlich.

Und auch in den Wahlkampf will er noch einmal eingreifen. Die SPD wird in der nächsten Woche einen persönlichen Brief Udes an mehr als 400 000 Münchner Haushalte verteilen lassen, in dem Ude für die Wahl Reiters wirbt. "Ich denke, dass das ein sehr wirkungsvoller Brief sein wird", sagt er. Natürlich auf Kosten der Partei, nicht der Stadt, so einen Fehler würde einer wie Ude nie machen. Aber unterzeichnet sein wird er mit "Christian Ude, Oberbürgermeister". Denn das sei ja nun mal sein Beruf.

Nicht mehr lange, aber auch Ude scheint sich an den Gedanken langsam zu gewöhnen. "Jetzt ist tatsächlich Zeit für den Wechsel", sagt er. Auch ohne Altersgrenze, fügt er hinzu, würde er nicht mehr antreten. Obwohl er vermutlich wieder gewinnen würde. Aber das sagt er natürlich nicht.

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