Süddeutsche Zeitung

Münchner Momente:Verschwörung im Kleiderschrank

Für so manchen, der sich während der Pandemie maximal vom Schreibtischstuhl zum Kühlschrank und wieder zurück bewegt hat, ist ein Besuch in der Fußgängerzone nicht länger zu vermeiden

Glosse von Andreas Schubert

Die vergangenen anderthalb Jahre haben einen so manches gelehrt. Zum Beispiel, dass es mehr als einen Paketdienst auf dieser Welt gibt und - in direktem Zusammenhang damit - wie die Nachbarn im eigenen Haus und in anderen Häusern der Straße so aussehen und heißen. Bisher hatte man die soziale Funktion der Paketdienste ja schmählich unterschätzt. Aber dank ihnen kam es nun regelmäßig an der Haustür zu so tiefschürfenden Konversationen wie "Danke fürs Annehmen" oder "Sorry, ich hab's nicht klingeln gehört" und so.

Jetzt, da die Heimbüroler allmählich wieder in ihre unterkühlten Glashäuser am Stadtrand zurückkehren, ist der so erfreuliche Kontakt zu den Nachbarn schon wieder am Einschlafen. Dafür kann man allerdings nun wieder Menschen auf der Straße treffen. Wer abends lieber zu Hause bleibt, weil er zum Beispiel kein Blaulicht und keine Martinshörner mag, ist zwecks menschlicher Kontaktaufnahme tagsüber mit der Fußgängerzone am Wochenende gut beraten.

Für so manchen, der sich während der Pandemie maximal vom Schreibtischstuhl zum Kühlschrank und wieder zurück bewegt hat, ist ein Besuch in der Shoppingmeile eh nicht mehr länger zu vermeiden - vor allem, wenn er oder sie nicht aufgepasst hat und sämtliche Kleidungsstücke zu heiß gewaschen hatte. Aber was kann man als unbedarfter Verbraucher schon dafür, wenn die Kleidungsindustrie, natürlich in voller Absicht, auf den Waschetiketten falsche Temperaturangaben macht, um die alten Klamotten unbrauchbar zu machen? Nix natürlich.

Im Umfeld der Sendlinger- und Kaufingerstraße waren am Samstag Zigtausende unterwegs, denen es allüberall zu eng geworden sein muss, weil auch sie auf die Etikettenmasche des Konfektionskartells hereingefallen sind. Selbiges muss zudem die Lockdowns genutzt haben, um still und heimlich auch die Größen zu ändern. Plötzlich steht da mindestens ein X mehr auf dem Etikett. Weil uns die Pandemie die Sinne geschärft hat, wissen wir natürlich, dass der Buchstabe nur für eine riesige Verschwörung stehen kann, an der mehrere Branchen beteiligt sind. Wer wachsam ist, hat sicher schon bemerkt, dass neuerdings auch Waagen versuchen, einen für blöd zu verkaufen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5341415
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 05.07.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.