Münchner Momente:Überlebenskampf und Ersatzsocken

Wenn man früher aus dem Urlaub kam und sein PC-Passwort vergessen hatte, war das ein Zeichen, dass man sich gut erholt hat. Heute steht man vor dem Aufzug und versucht sich zu erinnern, in welchem Stockwerk das Büro liegt

Glosse von Julian Hans

Bisher galt Urban Exploration als Freizeitbeschäftigung für eine Minderheit furchtloser Freaks, die heimlich verlassene Industrieruinen, ausgemusterte Bunker oder abbruchreife Krankenhäuser erkunden. Sie tauchen ein in untergegangene Welten auf der Jagd nach Nervenkitzel und nach einem besseren Verständnis für die Psychogeografie vergangener Zeiten. Heute kann das jeder erleben, der sich nach einem Jahr im Home-Office mal wieder an seinen alten Arbeitsplatz wagt. Lost places des Lockdown.

Wenn man früher aus dem Urlaub wiederkam und das Passwort für seinen Arbeitsrechner vergessen hatte, war das ein Zeichen dafür, dass man sich gut erholt hat. Heute steht man vor dem Aufzug und versucht sich zu erinnern, in welchem Stockwerk das eigene Büro liegt.

Dort angelangt ist tatsächlich alles noch so, als wären alle nur kurz zur Mittagspause in die Kantine gegangen. Nur der Bildschirm, in den man früher stundenlang gestarrt hat, als enthielte er die ganze Weisheit der Welt, wirkt jetzt wie der seelenlose Kasten aus Plasma und Plastik, der er ist. Davor Tastatur und Maus und Stapel von Unterlagen; Themen, die einmal wichtig gewesen sein müssen, lassen sich heute nur noch mit Mühe in einen Zusammenhang bringen.

Fast bekommt man eine Gänsehaut, wenn man die oberste Schublade im Rollcontainer öffnet und eine angebrochene Tafel Schokolade findet, Haltbarkeitsdatum abgelaufen, Nüsse ranzig. Das Paar Ersatzsocken in der untersten Schublade hätte sogar die richtige Größe, aber wäre es nicht etwas morbide, die anzuziehen?

An den Türen der Nachbarbüros stehen Namen von Kollegen, die längst in Rente sind oder sich neuen Aufgaben zugewandt haben. Ein frisches Wiener Würstchen im Kühlschrank der Pantry zeugt davon, dass es offenbar noch Leben gibt an diesem verlassenen Ort. Aber sobald dann wirklich ein maskierter Kollege über den leeren Gang huscht, erschrickt man doch im ersten Moment. Das war doch der Nette aus der Dings-Abteilung. Aber wie hieß der noch gleich?

Die Behauptung, die Natur hole sich den vom Menschen besetzten Raum wieder zurück, kann am Beispiel des eigenen Büros allerdings nicht bestätigt werden. Vielmehr erwies sich die Natur in Form eines mannshohen Gummibaums ohne die menschliche Fürsorge per Gießkanne als nicht überlebensfähig.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: