Münchner Momente:Sisyphos im Spätherbst

Wenn Nachbars Ahorn seine Blätter fallen lässt, könnte das einfach nur ein hübsches Farbenspiel geben. Doch der Ordnungssinn verlangt ja leider anderes

Kolumne von Karl Forster

Er war, da ist sich die Geschichtsschreibung sicher, schon ein wilder Vogel. Hätten die alten Griechen Bairisch gesprochen, wäre ihnen der "Strizzi" eingefallen, der "Saugrippe" vielleicht oder - als größtmögliche Anerkennung "a Hund, a vareckta". Weil die alten Griechen aber nur Griechisch konnten, nannten sie ihn einfach "poniros", also "listenreich", so wie später auch Odysseus. Die Rede ist von Sisyphos, dessen markante Streiche, etwa wie er den Thanatos ausgetrickst hat, heutzutage kaum jemandem mehr geläufig sind. Heutzutage erinnert man sich nur noch an die Strafe, die ihm deswegen Thanatos, der Tod, aufgebrummt hat: einen Stein den Berg hinauf rollen, der dann kurz vor dem Gipfel wieder hinunterstürzt - da capo!

Solcher Art Gedanken kommen einem gern im Spätherbst, wenn die Blätter des riesigen Ahorns auf dem Nachbargrundstück sich zu entgrünen beginnen, um bald darauf von den Ästen, die weit über den Zaun hängen, zu segeln, wo sie die kleine Frischluftzone, die Garten zu nennen übertrieben wäre, bunt färben. Was eigentlich hübsch wäre, geböte es nicht der Ordnungssinn, sie zusammenzurechen und in den Wertstoffhof zu bringen.

Die Idee, diesen Job der sogenannten besseren Hälfte zu überlassen läuft oft ins Leere, weil hier ganz plötzlich verstärktes Husten einen nahen Grippeanfall prophezeit. Dafür wird diese ewig unvollendete Rechenarbeit mit der Bemerkung "Na, geht doch!" kommentiert, was allfällige Wiederholungen einfordert. Apropos unvollendet: Es ist doch so, dass, kaum liegt die erste Lage Blätter säuberlich auf einem Haufen, sich beim leisesten Windhauch eine nächste auf dem Boden niedersenkt und "da capo!" schreit.

Womit wir wieder bei Sisyphos wären. Komme jetzt keiner mit dem Gedanken an einen Laubbläser! Solch ein hassenswertes Lärmgerät kommt nicht ins Haus, geschweige denn in den Garten. Sisyphos, der unendliche Steineroller, hatte schließlich auch keinen Raupenschlepper. Ja, nicht einmal eine Sackkarre. Und unsereins hat wenigstens die Hoffnung, dass das Laub am Ahorn endlich ist.

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