Süddeutsche Zeitung

Münchner Momente:Quatsch zum Selberbasteln

Manchmal kann eine Warteschlange sogar den Weg zur Erkenntnis weisen. Über 155 Einzelteile und eine ziemlich gute Idee

Kolumne von Juri Auel

Man dürfte eigentlich meinen, dass es für die Belegschaft eines Spielwarenladens keine entspanntere Zeit gibt, als die Tage im Januar, in denen die Tannenbäume in den Schaufenstern nahtlos von Blumen in Frühlingsfarben abgelöst werden. Die Wunschzettel sind abgearbeitet, vielleicht kommt das ein oder andere Geschenk zurück, weil die Großeltern nicht ganz verstanden haben, was der Bub da wieder haben wollte. Aber der große Stress, der kalkulierte Wahnsinn, der geht erst wieder los, wenn die Frühlingsblumen der Sommer-Sonnen-Deko, den Kürbisfratzen zu Halloween und abermals dem winterlichen Glitzerschmuck gewichen sind.

Umso erstaunlicher ist, was in einem Kaufhaus im Münchner Osten zu beobachten war. Vor einem Geschäft für Spielzeugbausteine schlängelte sich eine ganze Reihe Wartender um mehrere Ecken herum. Die meisten von ihnen hatten ihre Kinderzeit längst hinter sich, waren männlich und hatten den Blick starr auf das Handy in ihrer Hand gerichtet, um sich die Zeit zu vertreiben.

Die scherzhafte Frage, ob es dort denn etwas umsonst gebe, wusste ein freundlicher Mitarbeiter vor dem Geschäft nicht anders als mit "Ja" zu beantworten. Die Menschen in der Schlange hatten all die Strapazen auf sich genommen, um sich mit eigenen Händen zu erschaffen, was es so nirgendwo zu kaufen gibt: Ein Kiosk aus 155 Einzelteilen - mit Zeitungen in der Auslage, Sonnenmarkise und freundlichem Mitarbeiter hinter der Theke. Wer das Set vor Ort zusammensetzte, durfte es umsonst mit nach Hause nehmen. Auch wenn der Bausatz eigentlich ab sechs Jahren geeignet ist, war die Aktion ausdrücklich nur für Erwachsene - wobei die dänische Bausteinfirma als erwachsen definierte, wer 14 und älter war.

Was funktioniert, um auch nach dem dicken Weihnachtsgeschäft die Spielzeugläden wieder voll zu kriegen, sollten sich auch die Verleger zum Vorbild nehmen. Es hätte nur Vorteile, wenn die Leser eingeladen würden, sich nicht nur den Kiosk, sondern am besten gleich die ganze Zeitung mit den passenden Steinchen täglich selbst zusammenzubasteln. Zum einen wäre so perfektes Recycling möglich - und zum anderen könnte sich niemand mehr beschweren, was für ein Quatsch da schon wieder stünde.

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Quelle:
SZ vom 15.01.2020
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