Süddeutsche Zeitung

Münchner Momente:Hey Baby!

Wiesnmuffel und Wiesnverächter trifft die Absage des Oktoberfests eindeutig am härtesten

Kolumne von Wolfgang Görl

Natürlich ist jedem vernünftig denkenden Menschen klar, dass ein September ohne Oktoberfest zu den Phänomenen zählt, die der Münchner mit dem Begriff der Hölle verbindet. Und jetzt, da das Unvorstellbare eingetreten ist, braust und brodelt die Stadt vor lauter Unheilsgeschichten. Hinter vorgehaltener Corona-Maske erzählt man sich von Wiesnsüchtigen, die in ihrem Hobbykeller mit zwei, drei Gleichgesinnten nun 16 Tage lang die Augustiner-Festhalle simulieren, oder von Unglücksraben, denen es nach 20 Jahren erstmals gelungen ist, einen Tisch im Hofbräuzelt zu reservieren, und just jetzt gibt es weder das Hofbräuzelt noch irgendein anderes. Gewiss, das ist tragisch, aber diejenigen, welche die Absage am härtesten trifft, werden von der Öffentlichkeit zumeist übersehen. Es handelt sich um die zahlenmäßig gar nicht so kleine Gruppe der Wiesnmuffel und Wiesnverächter - also um diejenigen Leute, die ihr Glück darin finden, während des Oktoberfests von ihrem Schmollwinkel aus Hohn und Spott über die Wiesn und deren Freunde zu gießen.

Nun ist zwar jeder Münchner moralisch verpflichtet, wenigstens einmal pro Saison einen Wiesnbummel zu unternehmen; wer aber die Pflicht verweigert, bleibt strafrechtlich zumeist unbehelligt und muss schlimmstenfalls mit einem vierteljährlichen Führerscheinentzug rechnen. Aber statt froh zu sein, dass er nicht ins Gefängnis kommt, brüstet sich der Wiesnmuffel damit, dass er noch nie ein Festzelt oder das Teufelsrad von innen gesehen hat. Stattdessen reibt er den anständigen Münchnern, die noch unter dem vorabendlichen Betriebsausflug ins Hackerzelt leiden, maliziös unter die Nase, er habe zur selben Zeit die für jeden Menschen von Kultur und Bildung unverzichtbare Ausstellung eines mit Schokopudding und Spinnweben arbeitenden, kasachischen Installationskünstlers besichtigt, bei dessen Vernissage ein musikalisch wegweisendes Quartett für Nasenflöte, Viola d'Amore, Klingelton und Staubsauger zu hören war. Wer zur Antwort geltend macht, dass das "Hey Baby" der Wiesnkapelle Schwarzfischer auch nicht von Pappe sei, erntet dermaßen verächtliche Blicke, dass ein vierwöchiges Selbstbewusstseins-Coaching unumgänglich ist.

Auf all diese schönen Triumphe müssen die Wiesnverächter heuer verzichten. Missmutig streifen sie durch die Stadt, nur manchmal erhellt sich ihre Miene, wenn aus einem Hobbykeller ein dreistimmiges "Hey Baby" klingt. Selig lächelnd schimpfen sie auf die Banausen und ihr Höllengedudel - bis ein Staubsauger ertönt. Aaahh, das ist Musik!

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Quelle:
SZ vom 22.09.2020
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