Süddeutsche Zeitung

Münchner Momente:Fromm und friedlich

Das Zusammenleben mit den Nachbarn kann die Hölle sein - oder ein echtes Glück, wenn sich Mensch und Hund verstehen

Kolumne von Karl Forster

Es sind Schillers Worte, die auch heute noch Gültigkeit haben. "Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt", heißt es in seiner Tragödie Wilhelm Tell. Es dürfte auch im Sinne des Dichters sein, zieht man aus seiner Erkenntnis den Umkehrschluss, dass eine sehr friedfertige Beziehung wachsen kann, wenn der Nachbar das Gegenteil von böse ist und man selbst natürlich zu den Nettesten, Liebsten, also in bestem Schillerschen Sinn zu den Frömmsten gehört. So geschehen vor ein paar Jahren, als man nahezu gleichzeitig das neue Heim bezog, getrennt nur von einem gepflasterten Gang.

Bald schon klopfte jeder mal an des anderen Türe, ob man denn einen Hammer ausleihen könne oder eine Bohrmaschine. Bald schon trafen sich die Aperolgläser über den Gartenzaun zum postlaboralen Klang, ein erstes gemeinsames Abendessen führte dazu, dass sich auch die beiden Hunde über ihre Reviere dahingehend einig wurden, dass teilen besser ist als knurren. Als das Pärchen mit Hund vor dem anderen Pärchen mit Hund dann Schiller zitierte: "Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bund die Siebte", wurde die baldige Ankunft des Töchterchens gebührend gefeiert. Die werdende Mutter trank Wasser. Bald also konstatierte man beiderseits, dass aus Nachbarschaft Freundschaft geworden ist. Mit Schrecken dachte man an manche verkorkste Beziehung zu den Menschen jenseits der nächsten Tür, erzählte von überbordender Anteilnahme, die nichts anderes als Neugier war (Klopf, klopf, "Braucht's was?"), und erinnerte sich an das Pärchen aus dem Schwabenland, das immer pünktlich gegen halb acht klingelte mit der Frage: "Hascht du vielleicht a Zitronle?", und feststellte: "Bei euch riecht's aber gut", dann begeistert Platz nahm, um das Abendessen zu teilen. Das Zitronle haben sie dann vergessen.

Nun aber sind die drei mit Hund, die sich damals, als sie noch zu zweit waren, Hammer und Bohrmaschine geliehen haben, ausgezogen. Berufsbedingt ganz weit weg. Fast hätte es Tränen gegeben. Aber man ist schließlich erwachsen. Die Nachmieter haben schon Grüßgott gesagt übern Zaun. Junge Leute, vielleicht recht nett. Keine aus dem Zitrone-Land. Und einen Hund haben sie auch. Und beide in einem Beruf tätig, in dem das Schillerzitat vom Nachbarn auf dem Lehrplan stehen dürfte. Also: Wir sind's nicht, die Bösen. Herzlich willkommen!

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Quelle:
SZ vom 15.10.2020
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