Münchner Momente:Eine WG mit der ganzen Stadt

Laue Nächte, offene Fenster: Im Sommer kommt man sich näher

Kolumne von Pia Ratzesberger

Der wahre Sommer zeigt sich nicht am Tag, am Fluss in der prallen Sonne. Sondern am Abend, auf dem Weg nach Hause. Geht man durch die Straßen, sitzen die Menschen auf Parkbänken und Bordsteinen, auf dem warmen Asphalt. Man trifft dann zum Beispiel seinen Nachbarn aus dem vierten Stock, die Familie aus dem Haus gegenüber. Eine Großstadt mag anonym sein, im Sommer ist sie es nicht. Selbst wenn die Straßen um Mitternacht leerer werden und die Menschen in ihre Wohnungen gehen - die Fenster bleiben offen.

Im zweiten Stock schimmert blaues Licht, man hört Geballer, es zockt wohl gerade einer Playstation. Im Fenster daneben rotes Licht, eine bekannte Melodie und die Stimme von Werner Schulze-Erdel, besser bekannt als der Moderator des Familienduells: "100 Leute haben wir gefragt." Im nächsten Fenster dann Udo Lindenberg. Er singt "Hinterm Horizont geht's weiter" und man muss unweigerlich an seine Hamburger Kollegen denken, eine Band namens Tomte, die einst verkündete: "Hinter all diesen Fenstern sitzen Menschen, du hast es immer geahnt." In der Sommernacht wird das Viertel zu einer großen Wohngemeinschaft.

Man erinnert sich also an jene Zeit, als es einerseits nett war, dass immer jemand zum Plaudern da war, man andererseits aber vieles aus dem Leben seiner Mitbewohner besser nicht gewusst hätte und so geht es einem auch jetzt mit den Nachbarn und Werner Schulze-Erdel. Doch vielleicht sind diese Sommernächte nur eine erste Vorschau auf das künftige Leben in der Großstadt.

Immer mehr muss gebaut werden, es wäre jenseits aller Vorschriften nur logisch, wenn die Häuser dichter aneinander rückten. Bei offenen Fenstern könnte man dann eine Wäscheleine von einem zum nächsten spannen, an der eine Blechbüchse zum Nachbarn rüberschicken. Die Abstände zwischen den Häusern würden immer kleiner werden, irgendwann würde man die Wäscheleine nicht mehr brauchen, sich nicht mehr nur den Innenhof teilen, sondern auch die Zimmer, zu den Nachbarn müsste man nicht mehr rübergehen. Sie säßen schon im Wohnzimmer. Udo Lindenberg würde singen: "Hinterm Horizont geht's weiter". Und alle würden einstimmen: "Hinterm Horizont immer weiter, zusammen sind wir stark."

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