Münchner Momente:Der Bergsee in der Innenstadt

Was für ein Ort, diese neue Sendlinger Straße. Ein Bächlein plätschert, ein Mühlenrad knarrt, ein Hirsch tritt aus dem Wald - und dann durchbricht ein Schrei die Stille

Kolumne von Jakob Wetzel

München ist ein Idyll, speziell im September, während der letzten warmen Tage. Ganz besonders gilt das neuerdings auf der Sendlinger Straße. Schon seit knapp drei Jahren fahren hier keine Autos mehr, und seit fast einem Jahr ist auch der Umbau abgeschlossen, die gesamte Straße ist jetzt Fußgängerzone. Und seither ist sie kaum wiederzuerkennen.

Es gibt auf dieser Straße keinen Motorenlärm mehr, keinen Benzindunst, kein nervöses Hupen. Wo früher Autofahrer um die raren Parkplätze stritten, flaniert nun eine junge Frau mit einer Begleiterin von Schaufenster zu Schaufenster. Wo früher Mopeds knatterten, lachen jetzt Kinder und essen ein Eis. Irgendwem ist ein Luftballon entwischt, er fliegt zum Himmel, zur Sonne. Ein Pärchen schwebt turtelnd aus dem Juwelierladen am Eck, Touristen machen vor einem Laden mit Sonnenbrillen Halt, auf einem Blumenkübel lässt sich ein Schmetterling nieder, aus der Freischankfläche eines Wirtshauses riecht es nach Braten, nebenan nach Kaffee.

Was für ein Ort, diese neue Sendlinger Straße! Kein Trubel, keine Hektik, das alles ist weit, weit weg. Spatzen bauen hier jetzt ihre Nester und füttern ihre Kinder mit frischen Würmern. Freunde, die sich gestern noch gar nicht kannten, sitzen nun in kurzen Hosen unter jahrhundertealten Kastanien, lassen den Blick übers Panorama schweifen und prosten den Passanten zu. Igel spielen mit Katzen, und die spielen mit Hunden. Ein Bächlein plätschert, ein Mühlenrad knarrt, das Sendlinger Tor spiegelt sich in einem Bergsee, ein Hirsch tritt aus dem Wald und röhrt, der Kini ist bestimmt auch nicht weit - da durchbricht ein Schrei die Stille, und plötzlich ist der Zauber wieder fort. Ein Radfahrer ist aus einer Seitenstraße eingebogen und fährt nun an einem älteren Paar vorbei, mit einigem Abstand zwar, aber er fährt, dabei ist das doch verboten. "Arschloch!" blafft der Mann den Radfahrer an. Der ruft beiläufig "Selber!" und ist auch schon entschwunden. Der Mann und seine Begleitung gehen weiter, als wäre nichts gewesen, es war ja auch nichts. Man ist halt immer noch daheim in München.

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