Münchner Momente:Champagner für die Schnecke

Das spektakulärste Wesen, das die Fauna und Flora des noblen Stadtteils Bogenhausen bevölkert, wurde lange übersehen

Kolumne von Wolfgang Görl

Es ist ja leider so, dass Bogenhausen im Ruf steht, nur solchen Menschen Wohnrecht zu gewähren, die zig Millionen auf dem Konto haben, dazu einen Fuhrpark mit mindestens drei SUVs und Geldanlagen auf karibischen Inseln. Derlei Verleumdungen sind streng zurückzuweisen, karibische Geldanlagen sind nicht unbedingt nötig. Und wer dennoch von Ellenbogenhausen faselt, sollte sich schämen, so ganz ohne Not die Wahrheit herauszuposaunen.

Keinen Zweifel aber gibt es, dass Bogenhausen verdammt schön ist, schöner noch als die Messestadt Riem oder der Ratzingerplatz. Zudem ist das Stadtviertel Schauplatz feinster Literatur, denn dort spielt Thomas Manns Erzählung "Herr und Hund", die nicht ohne Grund den Untertitel "Ein Idyll" trägt. Thomas Mann wohnte, obwohl er keinen SUV hatte, selbst in Bogenhausen, in der Poschingerstraße am Herzogpark, wo er sich mit seinem Hühnerhundmischling Bauschan herumtrieb und diese Spaziergänge so anschaulich schilderte, dass jeder Leser mit Herz sich nach der Lektüre auch so einen Hund kauft. Und bislang dachte man, Thomas Mann hätte in seiner Erzählung die Vielfalt der Bogenhausener Natur vollständig wiedergegeben.

Mittlerweile weiß man, dass dies nicht stimmt. Das spektakulärste Wesen, das die Fauna und Flora des noblen Stadtteils bevölkert, hat der Nobelpreisträger unverständlicherweise übersehen: Sadleriana bavarica, die Bayerische Zwergdeckelschnecke. Wie neulich zu lesen war, lebt das maximal vier Millimeter große Weichtier ausschließlich in Bogenhausen, wo es sich dem genius loci entsprechend von Champagner und Kaviar ernährt. Diese Fixierung auf exquisite Nahrung ist auch der Grund, warum die Zwergdeckelschnecke beispielsweise im tropischen Regenwald ausgestorben ist. Warum Sadleriana bavarica so winzig ist, liegt auf der Hand. Bei den Immobilienpreisen in Bogenhausen kann sich die Schnecke einfach kein größeres Haus leisten.

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