Süddeutsche Zeitung

Münchner Momente:Allacher Bohème

Ist Allach das neue Schwabing? Diese Frage stellt sich angesichts jüngster Entwicklungen

Kolumne von Stefan Simon

Das Schwabing-Gefühl hat sich um die Grenzen Schwabings noch nie geschert. Viele glauben, der Stadtteil reiche bis zur Türkenstraße im Süden und zum Elisabethmarkt im Westen. Besonders hartnäckig hält sich dieser Irrtum bei denen, die schon immer in Schwabing wohnen wollten, es dann jedoch nur bis knapp daneben geschafft haben. In einer Studenten-WG in der Mitte der Schellingstraße wurden Besucher jahrelang damit beeindruckt, dass man von der Küche in einen Schwabinger Hinterhof blicken könne, während der Linienbus vor dem Haus in der Maxvorstadt halte. Es war zumindest die halbe Wahrheit.

Seit der Zeit des Blauen Reiters und des Simplicissimus' hat das gefühlte Schwabing sich ausgedehnt wie das Universum nach dem Urknall. Inzwischen scheint es zu verglühen wie Beteigeuze, der rote Riese im Sternbild Orion, der gerade enorme Staubwolken ins All schleudert und wohl nur noch einmal kurz als Supernova von sich Reden machen wird, ehe er zu einem Schwarzen Loch verkommt. Schwabings Staubwolken wehen, wenn man das so sagen kann, nach Allach, und das ist durchaus interessant. Erst das Schwabinger Podium und jetzt die legendären Weißen Feste der Max-Emanuel-Brauerei - beide wurden von Schwabing ausgestoßen und finden sich in der "Schießstätte Allach" wieder. Welche Überraschung, welch ein Zufall. Auch der Günther ist mit hinüber in dieses Paralleluniversum geflogen, Günther Sigl, der mit der Spider Murphy Gang und anderen Bands schon immer im Podium auftrat - und das jetzt eben unter Hirschgeweihen und Schießscheiben macht.

Auch wenn die Schwabinger (und die, die gar keine sind) nun milde lächeln: Stolze Gemeinden waren ja beide, ehe München sie sich einverleibte. Sie sind gleich alt, bis auf acht Jahre, beide haben ein Schloss, beide waren Schauplatz bedeutender Revolutionen: historische Krawalle auf der Leopoldstraße der Sechzigerjahre versus ein Backtriebmittel, das die Nahrungsmittelknappheit beendete und bis heute das Herstellen von Brot- und Backwaren in großen Mengen ermöglicht - was war wichtiger? Selbst die Bohème fände inzwischen wohl Gefallen an einem Leben an der Würm, abseits von Gentrifizierung und Verkehrsinfarkt. Ist Allach das bessere Schwabing, war es das schon immer? Spätestens, wenn die "Schießstätte" zur "Lach- und Schießstätte" wird, ist es Zeit, darüber nachzudenken.

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SZ vom 07.02.2020
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