Süddeutsche Zeitung

"Hurra! Ach nee, doch nicht":Die Münchner sind süchtig nach dem Schönen

Sie erzählen gern, die Stadt läge "praktisch am Alpenrand". Sie glauben, München sei Radlhauptstadt und beim Glockenbach-Italiener müsse man nicht reservieren. Stimmt aber leider nicht.

Kolumne von Christiane Lutz

Diese Woche machte eine verwirrende Meldung die Runde. Es ging um einen Brief, der vergangenes Jahr in München aufgetaucht war und angeblich von Albert Einstein stammte. Am Mittwoch dann die ernüchternde Botschaft: "Einstein-Brief ist nur Kopie" vermeldete eine große Nachrichtenagentur um 13.16 Uhr. Dann, ein paar Minuten später bei einer anderen Agentur: "Einstein-Brief aus München ist authentisch". Kurz darauf: "Einstein-Brief ist nur Kopie". Was dann am Ende auch stimmte, es gab zwar den Brief von Einstein, aber das gefundene Dokument ist nach wissenschaftlicher Prüfung tatsächlich nicht das Original.

Klassischer Fall von: Hurra! Ach nee, doch nicht. "Hurra! Ach nee, doch nicht" ist ein Syndrom, das die kleine Enttäuschung nach vorschneller Euphorie beschreibt. Eine seiner vielen Ursachen ist der Kampf um Aufmerksamkeit in dieser von Informationen dauerberieselten Gesellschaft. Man muss laut schreien, um gehört zu werden. Das Internet, die Bild und diverse Adelsblättchen machen es vor. "Hurra! Ein Baby" titeln letztere zuverlässig, wenn eine Herzogin statt mit Sekt mal mit Saftschorle gesichtet wird. Kann man ja einfach mal behaupten, vielleicht stimmt's sogar. Das "Ach nee, doch nicht" schieben sie dann meist in winzige Korrektur-Kästchen, falls sich die Herzogin die Mühe macht zu protestieren.

In München ist "Hurra! Ach nee, doch nicht" sehr verbreitet. Das liegt, eine weitere Ursache, einfach an der schlichten Freude des Münchners am Hurra, am unbedingten Willen zur Begeisterung. Der Münchner erzählt Besuchern von auswärts gerne, die Stadt läge "praktisch am Alpenrand", was trotz zahlloser wirklich ambitionierter Photoshop-Künstler bis heute einfach nicht stimmt. Der Münchner ist auf rührende Weise süchtig nach dem Schönen, dem Guten. Der Gasteig wird neuer und hübscher? Hurra! Ach nee, doch nicht. München ist Radlhauptstadt? Hurra! Ach nee, doch nicht. Die S-Bahn fährt los? Hurra! Ach nee, doch nicht. Da ist ein Parkpl... Ach nee, doch nicht. Im hippen Glockenbach-Italiener ist auch ohne Reservierung ein Tisch frei? Hurra! Ach nee, doch nicht. 70 Quadratmeter in der Maxvorstadt für 300 Euro? Hurraaaubacke, Null überlesen.

Ein Hurra ist schnell mal eingefangen. Nur nicht beim Themenkomplex Kreisverwaltungsreferat, einer komplett hurrafreien Zone. Wer in jüngster Zeit daran gescheitert ist, einen Termin für einen Personalausweis zu beantragen, weiß, dass er ohne Umschweife direkt in die emotionalen Ach-nee-Bereiche katapultiert wird. Immerhin: Wo kein Hurra war, ist auch keine Enttäuschung.

Man hat nun zwei Möglichkeiten, das Syndrom zu bekämpfen. Die erste: Man entscheidet sich für eine Betrachtungsweise des Lebens mit weniger Hurra, spart sich dann dafür das ernüchternde Ach-nee. Oder man umarmt die kleine Euphorie des Hurra, nimmt den kurzen Endorphinschauer mit und lässt sich von ihm von einem ausreservierten Restaurant zum nächsten treiben. Das Ach-nee tut dann gleich weniger weh. Und gesundheitsschädlich ist das Syndrom sowieso nicht. Hurra!

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SZ vom 15.06.2019/baso
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