Münchner Gebärdenchor:Der Klang der Stille

Die Mitglieder des Münchner Gebärdenchors können nicht hören und nicht sprechen - also singen sie mit Händen und Füßen. Im Moment proben sie für ihren Auftritt beim Kirchentag im Mai.

M. Maier-Albang

Als Kind, erzählt Monika Winter, habe sie sich oft ans Klavier gelehnt, wenn ihre Mutter eine Beethoven-Sonate gespielt hat. Sie spürte dann die Vibrationen und bekam zumindest eine Ahnung davon, wie es ist, wenn man Musik hören kann. Franz Kupka, der neben Monika Winter sitzt, schildert auch ein Erlebnis aus seiner Kindheit, ein weniger positives allerdings.

Zehn Jahre alt war er und saß mit dem Vater im Auto. Das Radio lief, der Sohn konnte sehen, wie sich die Lippen des Vaters bewegten. "Ich wollte mitsingen", erzählt Kupka, doch der Vater fuhr ihn nur an: "Sei ruhig!" Ob er so falsch sang, dass der Vater sich schämte? Er weiß es bis heute nicht.

Franz Kupka ist taub und mittlerweile auch erblindet. An einem Frühlingsabend sitzt er nun im Halbkreis im Pfarrheim der evangelischen Passionskirche in Obersendling. Er hat seine Arme vor der Brust verschränkt, Monika Winter, die neben ihm Platz genommen hat, gibt ihm einen Stups, wenn er an der Reihe ist. Sonst würde er seinen Einsatz verpassen, denn den Chorleiter kann Franz ja nicht sehen.

Dann singt er - auf seine Art: Die rechte Hand beschreibt einen Halbkreis, die Faust öffnet sich langsam, bis die Finger abstehen. "Die Sonne geht auf" heißt das Lied, das Kupka in seiner Sprache singt - "gebärden" nennen sie es. Fast alle, die zur Probe des Gebärdenchors gekommen sind, sind gehörlos. "Schreiben Sie nicht taubstumm", bittet der Chorleiter Hermann Bath.

Denn mit dem altmodischen Begriff könnten sich die Sänger nicht identifizieren. Die Menschen im Proberaum sind zwar taub, aber nicht stumm. Die meisten haben gelernt, sich in der sogenannten Lautsprache auszudrücken - nur verstehen die Hörenden sie zumeist schlecht. Manche konnten als Kind sogar hören und sind erst später taub geworden.

Weil der Chor gerade für seine Auftritte beim Ökumenischen Kirchentag probt, haben die Texte viel mit Sonne, Gott und Jesus zu tun. Wenn die Sänger von Jesus erzählen, tippen sie zuerst mit dem rechten Zeigefinger in die linke Handfläche und dann mit dem linken Zeigefinger in die andere Hand - ein Symbol der Kreuzigungsmale. Geht es um die Auferstehung, wirft man die Hände nach oben.

Und wenn sie "Gott" sagen wollen, spreizen sie Daumen, Zeige- und Mittelfinger ab: drei erhobene Finger, die in einen Arm münden, das steht für die Trinität. Der Chorleiter achtet auf Disziplin, doch bierernst geht es hier nicht zu. "Macht langsam", bedeutet Bath seinen Sängern. Schließlich brauche die Sonne Zeit, um über das Firmament zu wandern. "Es soll ja nicht so aussehen, als fliege hier ein Fußball durch die Luft."

Die Texte beschränken sich auf das Notwendige. Die erste Strophe des Liedes "Die Sonne geht auf" lautet beispielsweise: dunkel, Kummer, Angst. Not, hell, Jesus, auferstanden. Im Refrain gebärdet man dreimal "frei", wobei die Hände vor der Brust wegspringen, als berste eine Kette. Eine Theologie in Kurzformeln, die auch Hörende rasch verstehen.

Vieles ist noch Neuland

Wichtig beim Gebärden sei, sagt Bath, dass die Mimik zu den Gesten passt, so wie bei jeder Pantomime. Dass man traurig blickt, wenn man Kummer gebärdet, dass sich mit der aufgehenden Sonne auch das Gesicht aufhellt. Würde man griesgrämig schauen, wäre das wie ein Regenguss inmitten eines Sonnentages - und die Zuhörer wären irritiert.

Um die passenden Gesten machen sich die Sänger viele Gedanken. Schließlich wolle man nicht einfach die Musik der Hörenden imitieren, sondern eine "eigene poetische Ausdrucksform finden", wie es Cornelia Wolf, die Pfarrerin der evangelischen Gehörlosenseelsorge formuliert. Einiges ist festgeschrieben beim Gebärden, aber die Sprache lässt auch Freiräume zum Improvisieren.

Vieles ist noch Neuland, denn die meisten Chöre gibt es erst seit ein paar Jahren: Der katholische "Regenbogen"-Chor in München besteht seit drei Jahren, das evangelische Pendant trifft sich seit 2005. "Handgemacht" nennen sich die Protestanten, seit man für das Kirchentagsprogramm einen Namen benötigte.

Um voneinander zu lernen und um für den gemeinsamen Auftritt beim Kirchentag zu proben, haben sich die katholischen und evangelischen Gebärdenchöre aus Nürnberg, Augsburg, Würzburg, München, Pfarrkirchen und Stuttgart vor zwei Wochen am fränkischen Hesselberg getroffen. Rund 40 Sänger.

Wobei die Nürnberger als besonders innovativ gelten. Sie treten schon mal gemeinsam mit einem Gospelchor auf und lassen Frauen und Männer im Wechsel gebärden, damit es zum Gospelsong passt. Wenn es bei ihnen schon keine Soprane oder Tenöre gibt.

Baths Münchner Sänger treffen sich einmal im Monat. Sie finden es einfach nett, zwanglos zusammenzukommen. Und es bereitet ihnen Freude, miteinander kreativ zu sein. Chorleiter Bath erzählt, wie er zum Gebärden-Singen kam: Seine Mutter sang im Kirchenchor, und der Junge wünschte sich nichts sehnlicher, als auch singen zu können.

Die Eltern gaben ihm eine Flöte mit farbig markierten Noten. Doch das Spielen "hat mir nichts gegeben", sagt Bath. "Ich konnte das Ergebnis ja nicht hören." Die Sehnsucht also blieb. Irgendetwas, so sagte er sich, müsse es "doch auch für uns geben". Dann sah Bath einen Gebärdenchor aus den USA, da wusste er: "Das ist es!"

Annette Wolf, die ihm gegenüber sitzt, nickt. Als Kind konnte sie hören, hatte Klavierunterricht. Das Gebärden, sagt sie, "gibt mir Lebensfreude". "Da ist so viel Musik in meinem Körper." Manchmal singt sie auch laut. Aber nur daheim, und nur dann, wenn niemand zuhört.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: