Süddeutsche Zeitung

Münchens junge Kreative:Fantasiewelten zum Anziehen

Wo arbeiten Münchens junge kreative Köpfe? Wir haben sie an ihren Arbeitsplätzen besucht und ihnen über die Schulter geschaut. Heute: Chelsea Jean Lamm

Von Laurens Greschat

Die Kleider erinnern an Bilder des niederländischen Malers Hieronymus Bosch. Aus den bedruckten Seide-Stücken erschafft Chelsea Jean Lamm, 24, gemeinsam mit ihrer Schwester Ashley Elizabeth Lamm, 28, eine tragbare Welt aus Stoff, bevölkert von ausgefallenen Fabelwesen. Die Kleider sind filigran, bunt und voller Muster und versteckter Szenen. Wer sie anzieht, wird selbst zu einem solchen Wesen aus einer anderen Welt. Chelsea nennt sie deshalb "tragbare Kunstwerke".

Rund 10 000 Einzelteile muss Chelsea in Handarbeit für ein einziges Kleid zusammennähen. Hunderte Stunden braucht es, bis aus den Stoffstücken ein Kleid wird. Wertschätzung und Nachhaltigkeit sind ihr und ihrer Schwester deshalb wichtig. "Was ich versuche, ist, dass man Mode nicht mehr nur als Funktionsartikel sieht", sagt sie. Für Germanys Next Topmodel designte sie ein Kleid aus 1000 weggeworfenen CDs.

An Chelseas Wänden hängen Kiemen aus Stoff, mikroskopische Aufnahmen verschiedener Schmetterlingsflügel und schillernde Stoffproben. "Mein Arbeitsplatz spiegelt oftmals meinen Gefühlszustand wider. Wenn ich viele Gedanken oder Ideen im Kopf habe, dann werden aus meinen Wänden schnell Moodboards, auf denen ich alles, was mich inspiriert, festhalten und kombinieren kann", sagt sie.

Kommt Wind auf, wehen die Stoffstücke wie die Blätter eines Baumes. Die Kleider wirken lebendig, aber auch fragil - als würden sie auseinanderfallen, wenn man sie anzieht. "Eigentlich sind sie ganz robust", sagt Chelsea. Das blaue Kleid mit dem Namen Goura Victoria (inspiriert von der gefährdeten Victoria-Krontaube) überlebte zum Beispiel schon Fotoshootings am Ozean sowie eine ekstatische Tanzperformance.

Neun rötliche Kugeln baumeln an einem Geflecht aus Meerestieren, Korallen und alten römischen Bronzestatuen. Was aussieht wie die Rüsche eines Hosensaums, ist eigentlich ein Sammelsurium an Augenkrankheiten, ausgeschnitten aus einem alten Medizinbuch. Vor dem ersten Nadelstich durchforsten Chelsea und ihre Schwester wochenlang Magazine, Zeitungen und Bücher. Wenn die Collage fertig ist, werden die Fragmente in London auf Seide und andere Stoffe gedruckt und von Chelsea in München wieder zusammengefügt.

Amalgamare, das ist die Welt, die Chelsea und ihre Schwester als Kinder erträumten. Die Kleider, die sie heute gemeinsam schaffen, sind die Wesen, die diese Fantasiewelt bewohnen. Das Wort leitet sich von dem Verb amalgamieren ab, ein Begriff aus der Chemie, der so viel wie verschmelzen bedeutet. "Meine Schwester macht Kunst, ich mache Mode, wir vereinen beides, und dann kommt etwas Neues raus", sagt Chelsea.

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