Klagen lässt sich grundsätzlich auf zwei Arten: Man kann sein Leid klagen, zum Beispiel weil einen das Schicksal in der Pandemie hart getroffen hat, und viele Künstler und Kulturschaffende haben dazu wahrlich allen Grund. Andreas Schessl, mit Münchenmusik der größte Veranstalter von Klassikkonzerten der Stadt, stimmt in so ein Lamento nicht ein, er klagt auf die andere Weise: vor Gericht. Genauer: Er will am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eine "Außervollzugsetzung der für Kulturveranstaltungen geltenden Beschränkungen (unter anderem Kapazitätsbeschränkung auf 25 Prozent der Saalgröße)" erwirken. Die hätten ihn 60 Prozent seiner Veranstaltungen gekostet, wie den Schumann-Zyklus mit Daniel Barenboim in der Isarphilharmonie.
Schessl kämpft also gegen die empfundene Ungerechtigkeit an, das schließt ein Argumentieren ein. So hat ihm ein bekannter Arzt gesagt, er fände es widersinnig, dass er derzeit mit seinen Kindern nicht nebeneinander im Theater sitzen dürfe, zuvor aber ungetestet mit Fremden im vollen Restaurant an einem Tisch essen, trinken und plaudern dürfe. "Für uns gelten Maskenpflicht, Tests, und Abstände zwischen Angehörigen unterschiedlicher Haushalte. Das ist alles nicht durchdacht", sagt Schessl, "das hat mich dazu bewogen, mich zu wehren."
In einem Video sieht man, wie Alfons Schuhbeck vergnügt den Hit "Sweet Caroline" schmettert - inmitten ausgelassener, unmaskierter Gästen
Unter Veranstaltern kursiert derzeit ein Video, das das Dilemma der Kultur zugespitzt zeigt. In dem 45-sekündigen Film aus dem Teatro-Varieté-Zelt sieht man den Koch und Gastgeber Alfons Schuhbeck vergnügt den Hit "Sweet Caroline" samt Band und Chor inmitten ausgelassener, unmaskierter Gästen an den gut besetzten, mit Weinflaschen zugestellten Tischen schmettern. Natürlich, die vorhandenen Plexiglasschutzwände sind in dem Ausschnitt von der Revue nicht zu erkennen. Und, ja: Die dürfen das. Aber derlei Freizügigkeiten der Gastronomie bringen die "normalen" Kulturveranstalter auf die Barrikaden. So auch Patrick Oginski, den Vorsitzenden des Verbandes der Münchner Kulturveranstalter, der zur gleichen Zeit im Volkstheater ein Sitzkonzert mit den Bananafishbones veranstaltete: "Wir durften nur 125 Zuhörer einlassen, und dort im vollen Haus ist Party. Es ist unfassbar."
Diese Ungleichbehandlung hatten die Ministerpräsidenten in ihrer jüngsten Zusammenkunft auch so erkannt. Sie kündigten ob der drohenden Omikron-Welle an, bundesweit bei den Restaurants die Regeln verschärfen zu wollen: also 2 G plus, statt 2 G ohne Testnachweis. Andreas Schessl sieht darin durchaus eine "gewisse Gerechtigkeit", obschon beim Gastro-2-G-plus von Masken und Abständen bisher noch keine Rede war.
Nun will Markus Söder ohnehin ausscheren. Kurz vor dem Auslaufen den 15. bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung am 12. Januar lässt er prüfen, ob das Testen in Lokalen überhaupt etwas bringe pandemiemäßig, er will also seinen Wirten den Aufwand ersparen. Solch einen Einsatz des Ministerpräsidenten haben die Kulturschaffenden für ihre Branche stets vermisst. "In Berlin können wir in vollen Häusern spielen", sagt Andreas Schessl, der auch in anderen Bundesländern veranstaltet, "in Köln, Düsseldorf und Bonn gelten weniger Beschränkungen als bei uns." Nach den Gründen für die offensichtliche Schlechterstellung der Kultur gegenüber der Gastronomie gefragt, sagte Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek in einem Radio-Interview auf Bayern 2 nur: "Das haben wir eben im System unterschiedlich abgeschichtet."
Wenn die Exekutive keine Antwort gibt, soll die Justiz helfen
Das ist keine Antwort. Die Kultur wartet seit zwei Jahren auf eine Erklärung von höchster Instanz. Und gibt sie die Exekutive nicht, soll die Justiz helfen. Auch deswegen hat Schessl geklagt. Aber wie zuletzt die Initiative "Aufstehen für die Kunst" um hochrangige Klassikkünstler wie Christian Gerhaher, die bis zum Bundesverfassungsgericht zog und scheiterte, ist nun auch Schessl vorerst abgeblitzt. Er beschwert sich aber nicht über die Abweisung seines Eilantrags, vielmehr sieht er sich im Kern vom Gericht bestätigt. Denn auch der Senat erkannte "keinen sachlichen Grund für eine Differenzierung zwischen Betriebsarten der Gastronomie" und den Kulturbetrieben, die in letzteren zu Zugangsbeschränkungen führen müssten. Das Gericht verlangt nach einer Klärung.
So auch Till Hoffmann, der seinen Kleinkunstbetrieb etwa im Lustspielhaus bis 1. Februar eingestellt hat, weil es sich bei 25 Prozent Auslastung einfach nicht rechne. Obwohl er eine stattliche Speisenkarte anbietet und eventuell sogar als Gastrobetrieb unter Volllast öffnen könnte. Andere, etwa eine Jazz-Bar, mogeln sich auf diesem Weg (Nachos-Verkauf) gerade durch. "Wir sind eine Veranstaltungsstätte", stellt Hofmann für sich klar. Er will für niemand aus der Gastro etwas Schlechtes und will wie alle Kollegen auch keine Gefahr für die Gäste sein, und so hofft er auf baldige faire Beschlüsse aus dem Kabinett: "Wenn die Epidemiologen sagen, dass Gastro derzeit mit 2 G plus ohne Abstände und Masken möglich ist, dann erscheint es mir logisch, dass das auch für die Kultur gilt."
Katrin Neoral vom Bayerischen Landesverband der Kultur- und Kreativwirtschaft will es genau wissen. Es sei "unfassbar", sagt die Kulturmanagerin, mit welcher nachgeschobenen Begründung Markus Söder sein Zögern erklärt habe: "Es gebe noch nicht ausreichend gesicherte Expertisen in der Gastronomie." Der BLVKK hat nun Söder und Holetschek in einem Brief aufgefordert, darzulegen, welche Expertisen wiederum die Zumutungen der Kultur rechtfertigten. Alle bisherigen Studien hätten den Kulturbetrieb für vergleichsweise sicher erklärt. Der BLVKK wie auch der VDMK wollen erst fragen - klagen "nur im Worst Case".
Andreas Schessl hält an seinem Hauptklageverfahren am Bayerischen Verwaltungsgerichtfest: "Wer sich nicht wehrt, wird niedergebügelt", sagt er, "Das will ich schon geklärt wissen. Auch wenn Omikron dann längst durch ist und es wieder hingehen sollte zu den Öffnungen, will ich doch, dass die, die die Verordnungen schreiben, das für alle Zeit im Blick haben."