Süddeutsche Zeitung

Kritik:Die aufregende Lust am Detail

Clemens Schuldt verabschiedet sich als Chefdirigent vom Münchener Kammerorchester.

Von Egbert Tholl, München

Hat die Hochkultur ein Zuschauerproblem? An diesem Abend nicht, das Prinzregententheater ist bis auf den letzten Platz voll. 1000 Menschen hören nun ganz zarte Glöckchen, wie von einer weit entfernten Schafherde, nur ohne Schafe, dann setzt die Stimme ein, ostentativ naiv, im Duktus einer Volkssängerin, wie es die Partitur vorschreibt. Die Stimme gehört zu Sarah Maria Sun, die alles singen kann, was man in Noten hineinschreiben kann, und auch das, was sich nicht fixieren lässt, sie singt hier ein paar slowakische Worte von einer Nachtigall, dann verstummt sie für geraume Zeit, und das Orchester macht erst einmal alleine weiter.

Clemens Schuldt dirigiert sein Abschiedskonzert vom Münchener Kammerorchester, sechs Jahre war er dessen Chefdirigent gewesen. Es ist nicht sein letztes Konzert, es folgt noch eines auf Herrenchiemsee, ein Komponistenporträt von Sofia Gubaidulina in der Pinakothek der Moderne (2. Juli) und ein Auftritt in der Isarphilharmonie zusammen mit der Jazzrausch-Bigband. Aber dies hier ist nun einmal das letzte Abo-Konzert, also gibt es einen sehr herzlichen Abschied, in Worte gefasst von Michael Weiss, Cellist im Kammerorchester. Dieses, so Weiss, habe von Schuldt etwas verlangt, was Orchester selten täten, nämlich dass er alles können müsse. Andere Orchester holen sich für unterschiedliche Aufgaben unterschiedliche Dirigenten, beim Münchener Kammerorchester muss der Chef alles können, zum Abschied das Stück mit den Schafschellen von Fabio Nieder, geboren 1957, sowie Schumann und Beethoven, was zwar Mainstream ist, an diesem Abend aber nicht nach Mainstream klingt.

Nieder entwirft Klanglandschaften, in denen Einzelerscheinungen herumstehen wie zu erkundende Monolithen; erst herrscht ein eigentümlich gewitzter Humor, dann dunkelt alles ein, verdichtet sich, schließlich kehrt auch die Stimme wieder zurück, und Sarah Maria Sun gelingt es mit Leichtigkeit, alle zu verzaubern. An solchem Effekt arbeitet auch Kian Soltani; er spielt danach hochvirtuos den Solopart von Schumanns Cellokonzert, er wirkt dabei, als ströme die Musik durch ihn hindurch, durch den gesamten Körper. Im Gegensatz zu diesem emphatischen Erscheinungsbild bleibt sein Ton indes seltsam dünn; am schönsten ist seine Zugabe, eine ukrainische Volksweise. Zum Schluss Beethovens Vierte als packender Beweis, wie aufregend oft gehörte Musik sein kann, wenn man jedes Details ernst nimmt. Schuldts nächstes Orchester kann sich freuen.

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