Süddeutsche Zeitung

Zweite S-Bahn-Stammstrecke:Entgleiste Planung

Die zweite S-Bahn-Röhre, auf die München so sehnlich wartet, wird viel später kommen als versprochen und sie wird viel, viel teurer werden als kalkuliert. Politik und Bahn haben die Menschen verschaukelt. Höchste Zeit, das endlich einzuräumen.

Kommentar von Andreas Schubert

Wer am 5. April 2017 geboren wurde, dem Tag des Spatenstichs zur zweiten S-Bahn-Stammstrecke, kann bei deren Eröffnung schon mit seinen eigenen Kindern durch den Tunnel fahren. Bis 2037, also unglaubliche 20 Jahre, soll der Bau der zehn Kilometer langen Trasse dauern, von der sieben Kilometer unterirdisch verlaufen. Das sind elf Jahre mehr als ursprünglich kommuniziert. Ob die Deutsche Bahn (DB) damals schon wusste, dass sie es nicht in neun Jahren schaffen würde, wird sie wohl niemals zugeben. Und dann die Kosten: Eine Preissteigerung um 80 Prozent auf die - ebenso unglaubliche - Summe von 7,2 Milliarden Euro. Wenn das denn überhaupt reicht! Die neuen Schätzungen kommen nicht etwa von verbitterten Gegnern des Stammstreckentunnels, sondern von Experten des bayerischen Verkehrsministeriums, die das Projekt begleiten. Sie sind also als seriös zu betrachten.

Die DB selber beantwortet Fragen zu Kosten und Bauzeit nur mit Textbausteinen. Man prüfe, sei in Abstimmung, befinde sich in Gesprächen. Eine derart inhaltslose und mittlerweile unerträgliche Floskelei gehört schon seit Längerem zur Kommunikationsstrategie der Bahn. Dazu kommt eine Schönfärberei, die allmählich nur noch peinlich ist. Korrekturen von Fehlplanungen werden als "Optimierungen" schöngeredet, als der Projektleiter der zweiten Stammstrecke aufhörte, sprach man von einem günstigen Zeitpunkt für die Übergabe des Staffelstabs.

Alles gut, alles schön? Keineswegs. Die Planer haben ganz offensichtlich den Aufwand für den Bau des Tunnels und seiner drei Tiefbahnhöfe von Anfang an unterschätzt. Aber Kritik und Zweifel von Außenstehenden, die sich teilweise seit Jahrzehnten mit dem Schienenverkehr befassen, wurden abgeschmettert. Jetzt stehen der Freistaat, der Bund und die Bahn, aber auch deren Kunden, vor einem Debakel, wie man es schon vom Projekt Stuttgart 21 (aktueller Stand: sechs Jahre Verzögerung) und vom Berliner Flughafen BER (Eröffnung neun Jahre später) kennt. Für die Bahn wird es deshalb Zeit, die Fakten ehrlich auf den Tisch zu legen, das ist sie ihren Kunden schuldig.

Für den öffentlichen Nahverkehr im Raum München ist die Verzögerung bei der Stammstrecke - seien es nun acht oder elf Jahre - eine Katastrophe. Die Trasse sollte das unzuverlässige S-Bahn-System entlasten und dichtere Takte ermöglichen. Darauf können viele Pendler noch warten, bis sie in Rente sind, dem Klima ist damit nicht geholfen.

CSU-Staatsminister Christian Bernreiter verortet nun die Verantwortlichen dafür in Berlin und fordert mehr Geld für den Bahnausbau. Das ist nicht viel mehr als wohlfeile Parteitaktik. Denn er tut dabei gerade so, als hätten die Vorgänger von FDP-Verkehrsminister Volker Wissing - zwölf Jahre lang alle von der CSU - nichts mit der weit über München hinausreichenden Misere auf der Schiene zu tun.

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