Als sich tief unter dem Marienhof die 17 Tonnen schwere Tür öffnet, ziehen Nebelschwaden aus der Druckluftschleuse in die Baugrube. Der Nebel ist so dicht, dass selbst die Statuette der heiligen Barbara neben der Tür kaum mehr zu sehen ist. Kurz wähnt man sich auf einem Filmset, auf dem ein Special-Effects-Mensch das Dampf-Ventil zu weit aufgedreht hat. Doch der Nebel ist normal, er entsteht, wenn warme und feuchte Luft auf kalte Luft trifft.
In 27 Metern Tiefe wird in der Baugrube am Marienhof gerade der Stollen gegraben, der die neue S-Bahn-Station und den U-Bahnhof Marienplatz verbinden soll. Die Arbeiten finden unter Druckluft statt, damit kein Wasser von außen eindringt. Der Druck, der aktuell herrscht, entspricht einer Wassertiefe von vier Metern beim Tauchen. Vor und nach einer achtstündigen Schicht müssen die Arbeiter erst einmal zehn bis 15 Minuten in die Kompressionskammer. Ohne medizinische Freigabe darf niemand in den Druckluft-Bereich, „auch nicht der Söder“, witzelt der Schleusenwart.


Seit 2017 wird am Marienhof ein Tiefbahnhof für die zweite S-Bahn-Stammstrecke gebaut. Die Bahnsteigebene liegt in 40 Metern Tiefe. Inzwischen haben die Bagger sogar 44 Meter erreicht, hier wird später eine drei Meter dicke Betonplatte gegossen, bevor irgendwann die Gleise darauf verlegt werden. Aber das liegt noch in weiter Ferne. Irgendwann in den 2030er-Jahren – die Deutsche Bahn (DB) sagt 2035 – sollen hier einmal S-Bahnen fahren. Den Rohbau will die DB bis 2031 fertig haben. Aktuell bewegt man sich dort unten auf sandigem und tonigem Untergrund, der in trockenem Zustand sehr hart ist. Bagger schieben die Erde in die Mitte der Baugrube, wo der Aushub dann mit einem Kran mit einer riesigen Schaufel aus der Grube gehoben wird – ein spektakulärer Anblick von unten.
Es ist wohl eine der tiefsten Baugruben Deutschlands, ganz sicher aber die tiefste Münchens. Und es wird der tiefste Bahnhof im Lande werden. Insgesamt bewegt die DB für den Bau der neuen Station am Marienhof fast 363 000 Kubikmeter Erde – das entspricht einem Gewicht von mehr als 600 000 Tonnen. Bald ist der Aushub abgeschlossen, dann werden auch weniger Lastwagen durch die Stadt kurven müssen.


Das Projekt ist höchst anspruchsvoll. Auf der untersten Ebene will die DB von 2027 an mit dem Graben der Tunnelröhre beginnen, der Bahnsteig wird von der aktuellen Baugrube noch jeweils 60 Meter nach Westen und Osten gegraben und somit unter die bestehende Bebauung. Damit hier nichts absackt und die historischen Bauwerke wie das Rathaus, das Dallmayr-Stammhaus und die vorhandenen U-Bahn-Röhren der U3/U6 keine Schäden nehmen, wurde in den Gebäuden und der U-Bahn ein modernes Messsystem mit 970 Messpunkten installiert. Alle 15 Sekunden wird ein Messwert erfasst, was auf das Jahr hochgerechnet 169 Millionen Messwerte ergibt. Falls Setzungen auftreten, kommen sogenannte Hebungsinjektionen zum Einsatz. Bei Bedarf kann Zement in den Boden injiziert werden, um entstandene Hohlräume auszugleichen und den Boden und die betroffenen Bauwerke wieder anzuheben. Dies sei wie eine „Botox-Behandlung für die Erde“, sagt ein Bahnsprecher.
Für Arbeiter wie Besucher gelten hohe Sicherheitsstandards. Jeder, der sich in der Baugrube aufhält, hat einen registrierten Pager dabei, damit Rettungskräfte im Notfall wissen, wie viele Menschen sich in der Tiefe aufhalten. Ebenso Pflicht ist eine Art Rettungsset mit Atemmaske, um sich im Brandfall vor Rauch zu schützen. Im Druckluft-Bereich kommen nur Elektrofahrzeuge zum Einsatz, weil unter diesen Bedingungen die Brandgefahr besonders hoch ist. Darunter ist auch ein Schwergewicht: der erste 18 Tonnen schwere Radlader mit Akkubetrieb in Europa.
Gearbeitet wird am Marienhof rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Nur an Ostern, Weihnachten und dem 4. Dezember, dem Tag der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, ruhen die Arbeiten.