Süddeutsche Zeitung

Zweite Stammstrecke:Haidhausen bleibt heil

Dort war der Protest gegen die zweite Stammstrecke am größten. Nach den neuen Plänen bleiben dem Stadtteil die schlimmsten Baustellen nun erspart. Die Erleichterung ist den Menschen deutlich anzumerken.

Von Johannes Korsche

Als Sandra Scholz davon hörte, "hab ich erst mal eine Flasche Champagner gekauft", sagt die 45-Jährige. Sie wohnt an der Milchstraße, der kleine Platz, den sie von ihrem Wohnzimmer aus sieht, dort wo sich Milch-, Püttrich- und Kellerstraße treffen, sollte für die zweite Stammstrecke aufgerissen werden. Ein Rettungsschacht sollte an die Stelle, wo derzeit eine Linde Schatten spendet und abends die Tische der Pubs und Bars im Freien mit Bier und Snacks vollgestellt sind. Neben dem Lkw-Lärm wäre ihr Haus hinter einer Lärm- und Brandschutzwand verbarrikadiert worden. Sie hatte sich deswegen schon nach anderen Wohnungen in München umgesehen, aber "unsere Miete hätte sich bei was Vergleichbarem verdoppelt".

Dann klingelte vergangene Woche ihr Handy. Eine Nachbarin hatte auf WhatsApp in die Chatgruppe der Hausgemeinschaft geschrieben, dass sie nun doch vom gröbsten Baustellenlärm verschont bleiben würden. Die Bahn hatte gravierende Änderungen für den Stammstreckenbau verkündet. Die Baustelle für den Rettungsschacht kommt nun doch nicht. Und bei Scholz macht sich Erleichterung breit. Sie ist nicht alleine. Wer zwischen Maximiliansanlagen und Ostbahnhof für ein Gespräch kurz stehen bleibt, verwendet zumeist die gleichen Worte: "Heilfroh", "besser so", "sinnvoller".

Erleichterung hat sich über Haidhausen gelegt. Nicht ohne Grund, denn das Viertel östlich der Isar wird nicht ganz so fest im Griff des Stammstreckenbaus sein wie ursprünglich zu befürchten war. Von den vier offen Baustellen sind zwei weggefallen oder verschoben. Vor allem die Baustellen, die am meisten diskutiert waren, jene am Orleansplatz und vor Scholz' Haus werden nicht kommen. Da ist es den meisten auch egal, dass die neue Planung 100 bis 200 Millionen Euro mehr kosten könnte.

Da ist es ihnen auch egal, dass die Bahn so informierte, wie man das von Durchsagen am Bahnsteig gewohnt ist: zunächst nicht ganz vollständig. Hatte man doch bei der ersten Pressekonferenz vergessen, dass auch das Rettungskonzept geändert ist, eine weitere unterirdische Röhre zwischen den Zugtunneln die Flucht im Katastrophenfall ermöglichen soll, anstelle von Rettungsschächten alle 600 Meter entlang der Strecke. Nicht nur finanziell keine Kleinigkeit.

Um die Erleichterung besser zu verstehen, hilft es sich vor Augen zu führen, wie sehr sich die Haidhauser gegen die zweite Stammstrecke gestemmt haben. Demonstrationen und ein bayerischer Innen- und Verkehrsminister Joachim Herrmann (CSU), der 2017 früher in den Feierabend geschickt wurde, als er es an diesem Abend wohl vorhatte. Die Haidhauser hatten damals kurzerhand die erste aufwendig organisierte Bürgerversammlung zur zweiten Röhre zum Abbruch gepfiffen. Dazu Klagen und eine Bürgerinitiative aus dem Viertel - wer östlich der Isar vom Milliardenprojekt der Deutschen Bahn sprach, nannte es in der Regel lieber "Milliardengrab". Fans des Grubenprojekts fanden sich in Haidhausen kaum, zumindest waren sie sehr leise.

Der Protest gründete auch in dem Eindruck, in Haidhausen irgendwie doppelt geschlagen zu sein: Da haben sie schon die größte Belastung durch die oberirdischen Baustellen im Viertel. Nur damit ihnen die neue S-Bahnröhre am Ende nicht viel bringt. Viele nutzen meist das Fahrrad. Und am Rosenheimer Platz, dem Drehkreuz der öffentlichen Verkehrsmittel in dem Viertel, in die neue Linie steigen - das geht ja auch nicht. Die zweite Stammstrecke durchkreuzt die City mit nur fünf Haltestellen: Leuchtenbergring, Ostbahnhof, Marienhof, Hauptbahnhof, Laim.

Erleichterung herrscht auch bei Rui Marquez, der das "Il gelato italiano" an der Weißenburger Straße betreibt. Die Becherdichte, die den Schriftzug seiner Eisdiele tragen, ist an sonnigen Nachmittagen auf dem wenige Schritte entfernten Orleansplatz auffällig hoch. "Es ist das Beste, was passieren konnte, ganz eindeutig", sagt der Eismacher. Mit der jahrelangen Baustelle "vor meiner Tür wäre sicher gewesen, dass weniger Kunden kommen."

Auch neben Steffi Greger steht ein leerer Eisbecher. Sie hat sich für ihre Mittagspause ein Plätzchen im Halbschatten gesucht, auf den Holzlatten, die den muschelförmigen Brunnen des Orleansplatzes schon seit zwei Jahren verbergen. Vorboten der Baustellen für die zweite Stammstrecke, hörte jahrelang, wer sich nach dem Sinn des sommerlichen Holzkleides erkundigte. Denn erst, wenn der neue Bahnhof am Ostbahnhof unter den Orleansplatz getrieben sei, werde auch der Brunnen wieder plätschern. Seit vergangener Woche hört man: Die Haltestelle am Ostbahnhof kommt an die Friedenstraße, auf die andere Seite der Gleise, wo bis 2016 Autos verladen wurden. Den Orleansplatz will die Bahn also nicht mehr aufreißen und für Jahre zur Baugrube machen. Steffi Greger freut es, "weil es um den Orleansplatz schon schade wäre". Nicht nur wegen ihrer Mittagspause, die sie gern auf dem Platz verbringt.

Einen kleinen Spaziergang weiter erreicht man die kleine Familienkonditorei von Vera Wölfl an der Kellerstraße. Nur wenige Schritte entfernt war jener Rettungsschacht vorgesehen, dessen Aus zum Champagnerkauf führte. Er hätte aus der ruhigen Kellerstraße eine Lkw-Meile gemacht und aus den Sitzen vor Wölfls Konditorei ein unwirtliches Sperrgebiet. Die Tische hätte sie abbauen müssen, sagt die 44-Jährige. Sie führe den Laden schon seit mehr als zehn Jahren, gemeinsam mit ihrem Mann, der die Kuchen und Kekse mit einer Gesellin im Nebenraum selbst backt. Die Konditorei hat sich als Familienbetrieb gehalten, seit sie vor zwei Arbeitergenerationen 1950 eröffnete. Es schwingt eine Prise Stolz mit, wenn sie von einem "echten Familienbetrieb" spricht. Wegen der drohenden Baustelle habe sie aber schon überlegt, ob sie überhaupt an der Kellerstraße bleiben könnten, wenn, wie sie schätzt, etwa die Hälfte der Umsätze ausgeblieben wären. "Das alles, das Geschäft wäre weg gewesen", sagt sie und schiebt hinterher: "Nur wegen dieser blöden Stammstrecke."

Blöd war lange Zeit noch das netteste Wort, was Ingeborg Michelfeit zur zweiten Stammstrecke in Haidhausen über die Lippen gebracht hat. Sie kämpft als Vorsitzende der Bürgerinitiative seit Jahren gegen den "Tunnelwahn", wie es auf der Homepage der Bürgerinitiative Haidhausen heißt. Auch bei ihr klingt Erleichterung durch - wenngleich auch ein wenig skeptischer als bei anderen Haidhausern. "Ich bin sehr vorsichtig geworden", sagt sie. Aber: "Ich kann nicht sagen, ich freue mich nicht." Zwar kritisiert sie den "Milliardenwurm", der einfach "nicht totzukriegen ist", immer noch. Fordert den Ausbau der Außenäste, einen engeren Takt, das alles sei sinnvoller als die neue Röhre. Aber wenn schon gebaut werden müsse, dann sei die derzeitige Planung "bisher die beste". Ob und wie die Bürgerinitiative nun weitermacht, dafür will sie erst weitere technische Details abwarten.

In der WhatsApp-Gruppe von Sandra Scholz haben unterdessen bereits erste Diskussionen angefangen, wie es denn nun weitergehen könnte, mit der Linde vor ihrem Haus. Im Scherz schlug einer vor, die Linde von nun an in der Vorweihnachtszeit festlich zu schmücken. Ganz so weit geht die Feststimmung dann aber doch nicht. Den Platz jedoch, den wollen sie jetzt aufhübschen: noch eine Bank, vielleicht ein paar Blumen und eine Hängematte. Dort werden sie dann mal erleichtert baumeln und von dem Protest und der Wut erzählen. Von damals, als Haidhausen mal aufgerissen werden sollte und die Läden fast schließen mussten. Nur wegen der Stammstrecke.

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SZ vom 26.07.2019/baso
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