Oben an der Wandkante: Bunte, breite Farbflecken auf dem groben Stein. So, als aus ob aus Versehen Dosen mit Lack umgefallen, die Farbreste ausgelaufen und die Wand hinuntergeflossen wären. Vorsichtig tippt der Neugierige mit dem Finger in die dicke, leicht glänzende Schicht Farbe. Sie könnte ja noch weich sein, doch sie ist getrocknet. Ist wohl doch schon vor längerer Zeit aufgetragen worden. Doch tatsächlich ist hier nichts aus Versehen geschehen: Die Farben sind da, weil es die 31-jährige Künstlerin Janine Mackenroth so wollte. Genau so. Und sie nimmt tatsächlich Farbdosen, leert sie mit eigenwilligen Bewegungen ein Stückchen vor der Wandkante aus. Die Farbe schwappt über die Kante und fließt - und das ist das Einzige, was nun nicht bestimmbar ist - in allen Richtungen in den Rillen, Rissen und Mauerläufen auf den Boden.
Seit drei Wochen gestaltet die Künstlerin, die im nahe gelegenen Streitfeld ihr Atelier hat, die riesige, 300 Meter lange Wand am Mittleren Ring auf Höhe der Unterführung Leuchtenbergring. Eine überdimensionale Leinwand, deren Größe einem erst bewusst wird, wenn man die Mauer einmal ganz abgeht. "Da musste ich wirklich erst einmal ein Gefühl für diese Fläche entwickeln", sagt die Künstlerin, die ihre ersten drei Wochen so zusammenfasst: "Die erste Woche war geprägt von den Gedanken, ob alles so funktioniert, wie ich es mir vorgestellt habe. Die zweite war die große Farbwoche, und mir wurde besonders bewusst, dass ich dieser riesigen Fläche künstlerisch meinen Stempel aufdrücke. Jetzt in der dritten Woche hat sich alles eingespielt. Ich weiß genau, wohin die Farbe gehört."
Die niedrigste Mauerstelle ist 1,20, die höchste sieben Meter hoch. Ein rot-weißes Flatterband sorgt für ein bisschen Abstand zur Mauer. Nicht wegen Corona, sondern wegen der Gefährdung von Passanten und damit sicher gearbeitet werden kann. "Vorsicht im Gestaltungsbereich" steht auf einem Schild. Darunter die Mail-Adresse von Munich Art District (MAD) - ein Name, hinter dem sich eine klare Vision verbirgt: den urbanen Raum zu verschönern, mit Hilfe lokaler Künstler ein Viertel zu einer Art Open-Air-Galerie zu machen. "Wir haben hier das Ziel, im Bereich der Street-Art-Kunst Deutschlands größte Sammlung zu werden", sagt Geschäftsführer Thomas Wimmer. Das Gebiet rund um die Neumarkter Straße soll schöner werden, graue Wände verschwinden. So hat der argentinische Street Art Künstler Alan Myers bereits 2019 das erste Kunstwerk für den Munich Art District fertiggestellt - an der Hauswand der Brotmanufaktur Schmidt an der Neumarkter Straße: Große Hände kneten kraftvoll einen Brotteig. Andere sollen, sagt Thomas Wimmer, folgen: Ein Bild vom Münchner Künstler Loomit, eine Arbeit von "Dave the Chimp" aus Berlin oder ein fotorealistisches Graffito des Künstlers "Bert" aus Weimar an der Lidl-Fassade.
Janine Mackenroth wurde von einer Jury ausgewählt, ihr Kunstwerk "Ein Viertel läuft über", an der Wand entlang des Mittleren Rings verwirklichen zu können. Das "Überlaufen" hat sie sozusagen wörtlich genommen. Alles Kreative in diesem Viertel soll in Form einer Art Farbkaskade hinausgetragen werden. Und oben an der Wandkante wird der Moment auch fast greifbar, in dem die Farbe nur im Bruchteil einer Sekunde überfließt und sich den Weg nach unten sucht. Blickt man den Rinnsalen nach, spürt man beinahe physisch die Höhe der Wand - wie wenn man im Gebirge von einem steilen Grat aus die Welt unten wahrnimmt. Hier sind es neue Bilder in Form von abstrakten, pastosen Farbpfützen am Boden. Und hier ist es der fließende Verkehr, vor dem die Wand Schutz bietet. Die Farbe fließt, der Verkehr, die Zeit.
Gerade Linien, akkurat gezogene Pinselstriche sind "nicht meins", sagt Mackenroth. Die Zufälligkeit spielte in ihren Arbeiten schon immer eine Rolle. Ihr geht es um das Aufbrechen gewöhnlicher Strukturen, gewöhnlicher Traditionen. Das Auflösen von Gleichförmigkeit. Nur was die Farben betrifft, hat sie Vorstellungen, plant. So auch am Mittleren Ring. Auf Karton hat sie ausprobiert, welche Farben zusammenlaufen sollen. Am Anfang der Wand zeigt sie alle Farben auf, die noch kommen und spielt dann später mit Komplementär-Kontrasten wie Blau und Orange, Gelb und Lila oder Rot und Türkis. Und sie muss Farben auslassen, die auf dem dunklen Grau der Wand "ganz grauenvoll" aussehen - wie ein Braun oder ein dunkles Grün.
Mit Mundschutz - auch nicht wegen Corona, sondern wegen des Feinstaubs -, Brille und Hörschutz arbeitet sie. Taucht ab in ihre Welt, blendet die Wirklichkeit unten auf dem Mittleren Ring einfach aus. Denn der Verkehr sei laut, sagt die 31-jährige gebürtige Münchnerin. Ihre Assistentin reicht ihr die Dosen. Schweigsam in einem schon eingespielten Rhythmus. 800 Dosen Farbe hat sie bereits verbraucht, 600 Liter. Und es werden noch einmal so viel. Noch einmal 800 Dosen. Die lagern schon auf Paletten in ihrem Atelier an der Streitfeldstraße 33. Schön nach Farbe sortiert.
Wenn ein Kunsttag beginnt, dann bepackt sie ihren Bollerwagen oder einen Schubkarren mit unzähligen Dosen. Drei Wochen lang hat sie die Dosen leicht schüttelnd bei Sonnenschein geleert. Das perfekte Schütteln übrigens hat Janine Mackenroth geübt. "Und wie", sagt sie lachend. An irgendwelchen alten, porösen Terrassenplatten. Doch jetzt regnet es. Und das Wetter bleibt schlecht. Da die Lacke 24 Stunden trocknen müssen, bis sie wind- und wetterfest sind, hat Janine Mackenroth erst einmal Pause. Vielleicht wird sie die nützen, um einmal auf der anderen Seite des Mittleren Rings spazieren zu gehen und der Wirkung ihres Kunstwerks nachzuspüren. Bis Juni soll es "final" fertig sein. Doch an einigen Stellen, das weiß sie schon jetzt, wird sie noch einiges verändern. Vielleicht eine andere Farbe über ein leuchtendes Orange legen, eine weitere Farbspur über die Wandkante schütteln.