Lange her, oder? „,Damals‘, das sagt man so.“ Johanna Kappauf spricht den Satz direkt ins Publikum. Das Licht im Zuschauerraum der Therese-Giehse-Halle der Kammerspiele ist noch an. Schauspieler und Publikum sind eine Gemeinschaft, die sich im Verlauf dieses Abends mit dem Schicksal Mordechai Teichners beschäftigen wird, mit der verdrängten Geschichte Feldafings. Und damit, was das mit uns heute zu tun hat. „Damals“, das sagt man so.
Mit der Uraufführung des Dokumentartheaterabends „Zeit ohne Gefühle“ haben die Kammerspiele auch einen Themenschwerpunkt eröffnet. „Wohin jetzt?“, fragt mit Stadtführungen, Workshops, Lesungen und Theater nach jüdischer Migrationserfahrung und danach, was in der Nachkriegszeit wurde aus Opfern und Tätern.
Lena Gorelik hat auf der Basis von Dokumenten ein Stück geschrieben, das die Geschichte eines Überlebenden erzählt. Schon mit diesem Begriff könnte man sich einrichten in der Bequemlichkeit des formalisierten Gedenkens, das gerne einen Ort bekommt und einen Stein. Überlebende? „Wir nennen sie so, als wäre das eine Berufsbezeichnung. Als verdienten Überlebende keine Namen“, spricht Kappauf.
Dieser Überlebende hieß Mordechai Teichner. Man sieht ihn vor seinem Tod in einem Video als milden alten Mann. Sein Sohn Meir hat dem Theaterteam um Regisseurin Christine Umpfenbach von seinem Vater erzählt, seiner Stärke und dem Willen zu leben und der Bescheidenheit, das Schicksal nicht als Podest zu nutzen: „My father is not a special guy.“ Walter Hess spricht Meir Teichners Worte, aber zur Premiere ist der in Israel lebende Sohn selber gekommen.
Die Sätze, die er beim Schlussapplaus auf der Bühne sagt, sind letztes Zeichen, dass dieser Abend nicht verkapselt ist im ästhetischen Bühnenraum, sondern verbunden mit unserer Gegenwart und nicht endet, wenn die Scheinwerfer verlöschen. Meir hat die schlichte Bitte, die Erinnerung lebendig zu halten.

Projiziert auf die Leinwand im Bühnenhintergrund sieht man Panoramavideoaufnahmen von Feldafing, in denen man sofort spazieren gehen möchte. Das Herbstlaub. Der Starnberger See. Ein Segelboot. Mordechai Teichner hat auch einmal in Feldafing gelebt. In der Zeit, die man die Stunde Null nennt. Nach dem Zusammenbruch der Nazidiktatur fand er Unterkunft in einem DP Camp. Einem Camp für Displaced Persons, Zufluchtsort für jene wenigen, die die Lager überlebt hatten. Bis zu 6000 Menschen waren untergebracht auf dem Gelände in Feldafing, das noch kurz vorher genutzt wurde für eine Reichsschule, in der man den nationalsozialistischen Nachwuchs heranzog.
Der Abend erzählt, wie Mordechai aus Budapest nach Auschwitz deportiert wurde, von dort ins KZ Dachau kam und weitergeschickt wurde in eine der vielen Außenstellen des KZs nach Mühldorf. Wie der Krieg endete, und er, das Bündel Mensch, es schaffte, im Hin und Her nicht unterzugehen, und in Feldafing landete. Der Abend erzählt parallel von Feldafing, wo man, wie überall in Deutschland, wenig hören und sehen wollte. Es ist ein Stoff, so komplex wie das Leben, in dem man leicht die Übersicht verlieren könnte.
Aber Christine Umpfenbach gelingt soghafte Bildverdichtung des Textes. Das reduzierte Eck eines oberbayerischen Hauses dient als Spiel- und Projektionsfläche, ein rudimentär zusammengezimmertes Gerüst eines Autos ist Steuerzentrale für die Einspieler von Fotos und Videos, die wie Erinnerungen auf die weißen Oberflächen des Bühnenbildes gelegt werden. Im Kontrast von aktuellen Videos in Farbe aus Feldafing, den Schwarz-Weiß-Fotografien und Schauspielern, die beispielsweise die Körperertüchtigungsposen der Schüler der Reichsschule nachstellen, geht die Vergangenheit auf in der unmittelbaren Bühnenpräsenz. Das ist die Kraft des Theaters.
„Wieso eigentlich ,neue‘ Rechte? Was ist an der neu?“
„Juden infiltrieren Parteien“ – ein Satz eines AfD-Abgeordneten. Einer von vielen, die in diesem Stück neben den Aussagen der Nationalsozialisten von damals stehen. Einer träumt heute von einem neuen Holocaust. In diesem Nebeneinander der unmenschlichen Gedanken bleibt kein Platz mehr für Ausflüchte und Relativierung. Die alles bündelnde rhetorische Frage stellt der Schauspieler Walter Hess: „Wieso eigentlich ,neue‘ Rechte? Was ist an der neu?“ Geisterhaft singen sie auf der Bühne mit kindlichen Kopfstimmen: „Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt!“ – unheilvolle Botschaft aus der Vergangenheit, die ihr Gift in unsere Zukunft trägt.
Die Darstellung auf der Bühne ist ein Spiel mit Verantwortung: Jeder kann jeder sein. Rollen werden hier nicht verkörpert, sie werden von diesem präzise zwischen den Ebenen umschaltenden Ensemble vorgezeigt. Eben noch Reichsschulerzieher und Musternazi Julius Goerlitz wird der Schauspieler Minuten später zu Mordechai. Nur die Rolle des Auschwitz-Lagerarztes Josef Mengele will sich keiner anziehen. Die Selektion mit einem Fingerzeig, sie soll auf der Bühne keinen Platz bekommen.
Lena Gorelik hat klug gearbeitet. Zur Unmittelbarkeit, die ihr Text erzeugt, gehört in diesen Zeiten auch die Frage nach Israel und Gaza. Sie wird nicht weggedrückt, sondern direkt adressiert. Erst einmal mit der schlichten Klarstellung: „Es geht doch heute und hier gar nicht um Israel.“ Der Sohn Meir Teichner selber ist es, der, als Israeli Versöhnung fordernd, die israelische Regierung kritisiert. Dieser Abend aber richtet sich nicht an Israel, er richtet sich an uns.
Mit Verachtung und Misstrauen blickten die Menschen in Feldafing auf die Bewohner des DP Camps herab. Sie waren ihnen unheimlich, diese ausgemergelten Gestalten. Nein, nach dem Zusammenbruch der Nazidiktatur löste sich die zugehörige Geisteshaltung nicht in Luft auf. Sind wir menschlicher? Lena Goreliks Text schafft Gegenwart. Und nennt sie: „Die Flüchtlinge. Die Syrer. Die Afghanen. Diese Männer in unserem Feldafing. In unserem Stadtbild.“

